"Es ist mindestens genauso wichtig, dass wir Forschende uns auch aktiv an der Gestaltung der Transformation beteiligen."
Dr. Philine Gaffron arbeitet an der Technischen Universität in Hamburg zu sozialer Umweltgerechtigkeit sowie zu nachhaltiger, "verträglicher" Mobilität. Im Gespräch » redet sie über ihr berufliches und ehrenamtliches Engagement aber auch aktuelle wissenschaftliche Fragen.
Frau Gaffron, Sie arbeiten am Institut für Verkehrsplanung und Logistik der Technischen Universität in Hamburg als Oberingenieurin. Wie sind Sie von der Landschaftsplanung zu Ihrer aktuellen Stelle gekommen?
Gaffron: Bevor ich überhaupt so weit war, mir über ein Studium Gedanken zu machen, wollte ich Verhaltensforscherin werden. Unter anderem deshalb habe ich zunächst in England Ökologie studiert und bin dann für das Masterstudium der Landschaftsplanung nach Schottland gegangen. Dort kam ich dann als Volontärin bei einer NGO erstmals mit nachhaltiger Verkehrsplanung in Berührung. Das Thema war so alltagsrelevant und ständig präsent, dass ich mich auch im Rahmen meiner Doktorarbeit an der Edinburgh Napier University damit beschäftigt habe. So bin ich im Endeffekt dann also doch wieder bei der Verhaltensforschung gelandet. Nur ist es eben nicht das Verhalten von Tieren, sondern das menschliche Verhalten im Bereich Verkehr und Mobilität, mit dem ich mich beschäftige.
Haben Sie in diesem Zusammenhang auch begonnen, sich mit dem Thema Umweltgerechtigkeit auseinanderzusetzen?
Zum Thema Umweltgerechtigkeit bin ich zunächst über Diskussionen mit meinem Institutsleiter hier an der TU, Prof. Carsten Gertz gekommen. Ein Stipendium der Deutschen Forschungsgemeinschaft hat mir dann einen Aufenthalt in den USA ermöglicht, wo ich zwei Jahre an der UC Davis in Kalifornien geforscht habe.
Warum die USA und nicht Deutschland?
Die Sensibilisierung für Aspekte der Umweltgerechtigkeit hat in den USA wesentlich früher begonnen als in Deutschland. Das fing in den 60er-Jahren mit der Bürgerrechtsbewegung an. Damals wurde man darauf aufmerksam, dass Belastungsquellen wie Müllverbrennungsanlagen oder Chemiewerke häufiger in der Nähe der Wohngebiete von ethnischen Minderheiten zu finden waren. Im Bereich Verkehr richtete sich dann der Blick auf unterschiedliche Betroffenheit durch Verkehrslärm und Abgase am Wohnort. Für diese Problematik gibt es in Deutschland mittlerweile auch ein gewisses Bewusstsein, wenngleich noch deutlich ausgeprägter in der Forschung als in der Praxis. In den USA ist das Thema aber insgesamt wesentlich weiter gefasst und beinhaltet auch Aspekte wie Unfallrisiken im Verkehr und Fragen der Erreichbarkeit: wie gut sind verschiedene Regionen, Stadtviertel und die dort lebenden und arbeitenden Bevölkerungsgruppen mit Mobilitätsangeboten versorgt? An diesen Fragen wird in den USA einfach schon wesentlich länger geforscht. Also gab es dort aus wissenschaftlicher Sicht auch mehr zu lernen.
Soziale Ungerechtigkeit im Verkehr ist auch ein Thema, mit dem sich Caroline Criado-Perez in ihrem Buch „Unsichtbare Frauen“ mit Blick auf „männliche Verkehrsplanung“ beschäftigt.
Ja, Verkehrsplanung war lange und ist vielerorts immer noch ein relativ männlich dominierter Bereich. Dadurch hat auch eine von maskulinen Normen geprägte Perspektive ganz nachhaltig unsere Mobilitätssysteme geformt. Das Buch, das Sie erwähnen, beschreibt zum Beispiel, dass in Skandinavien irgendwann angeregt wurde, im Winter auf Bürgersteigen und Radwegen mit der Schneeräumung anzufangen und nicht auf der Straße. Denn das sind die Räume, die wir als erstes nutzen, wenn wir das Haus oder die Wohnung verlassen. Außerdem werden sie eben öfter von Frauen verwendet, weil die auch häufiger zu Fuß oder mit dem Rad noch ein Kind zur Schule oder in den Kindergarten bringen. Sie steigen weniger häufig als Männer sofort vor dem Haus in ein Auto. Und das ist nur ein Beispiel von vielen. Man sieht dieses Ungleichgewicht auch nicht nur in Planung und Verwaltung, sondern auch bei öffentlichen Veranstaltungen. Und zwar nicht nur beim Thema Mobilität, denn Partizipation ist generell ein Geschlechter- und insgesamt ein soziales Thema: Wer hat eigentlich Zeit, zu bestimmten Terminen hinzugehen? Wer ist es eher gewöhnt, sich vor Fremden zu äußern und die eigene Perspektive für relevant zu halten? Das verändert sich mittlerweile, aber noch zu langsam.
Brauchen wir dann vielleicht mehr Frauen in der Verkehrsplanung - als Bundesverkehrsminister*in oder Landesminister*innen, um eine echte Verkehrswende zu schaffen?
Das ist wirklich eine spannende Frage. Gerade beim Bundesverkehrsministerium ist es tatsächlich so, dass man sich mittlerweile auch in der Fachszene fragt, was es eigentlich noch braucht, damit dort wirklich zukunftsfähige Verkehrspolitik gemacht wird. Allerdings muss man auch sagen: Eine einzige Person kann allein oft nicht den nötigen Unterschied machen, denn natürlich spielen in den Ministerien auch die Verwaltungsapparate eine im wahren Wortsinn entscheidende Rolle. Und die wurden eben auch über Jahrzehnte von einer bestimmten Perspektive geprägt. Wichtig ist in jedem Fall, dass wir durch die Verkehrswende eine verträgliche Mobilität für alle ermöglichen und zwar hoffentlich lange bevor wir Geschlechtergerechtigkeit und eine angemessene Diversität in jeder letzten Behörde erreicht haben. Verträglich bedeutet in diesem Zusammenhang: verträglich für die Menschen, verträglich für‘s Klima, verträglich für Umwelt und Natur. Und natürlich auch verträglich für eine zukunftsfähige Wirtschaft. Was die Menschen betrifft, so verbessern wir das System im Endeffekt für alle, wenn Mobilitätsangebote so gestaltet sind, dass sie den Bedürfnissen von Kindern und älteren Menschen gerecht werden. Und eben auch von Menschen, die nicht im Wesentlichen zwischen Arbeit und Wohnung hin- und herfahren.
Ehrenamtlich spielen Klima und Mobilität auch eine Rolle für Sie. So waren Sie bis Februar 2022: Mitglied der Enquetekommission "Klimaschutzstrategie für das Land Bremen" und sind Mitglied des Klimabeirats des Hamburger Senats. Wie stark ist hier Ihr Einfluss?
Ich habe mich sehr gefreut, als ich gefragt wurde, ob ich bei diesen Gremien dabei sein will. Mit Blick auf die Klimakrise und die verschiedenen Ebenen, auf denen es Handlungsdruck gibt, sehe ich die Rolle der Wissenschaft zunehmend auch darin, den politischen und generell den öffentlichen Diskurs auf wissenschaftlicher Basis aktiv mitzugestalten. Das geht deutlich weiter, als zu sagen: Wir forschen, veröffentlichen unsere Ergebnisse und überlassen es dann dem Rest der Gesellschaft, was sie damit anfangen. Im aktuellen Bericht des Intergovernmental Panel on Climate Change steht klar und deutlich, dass innerhalb des laufenden Jahrzehnts in allen Sektoren sehr tiefgreifende Veränderungen erreicht werden müssen, um ein halbwegs menschenfreundliches Klima zu erhalten. Das sind noch sieben Jahre. Natürlich gibt es immer noch Fragen, die man sinnvoll beforschen kann und sollte, auch im Verkehrsbereich. Aber stellen wir uns vor, ich schreibe jetzt ein Jahr lang gemeinsam mit Kollegen*innen einen Förderantrag für ein großes Forschungsprojekt zu einem Verkehrswendethema. Dann läuft das Projekt vielleicht fünf Jahre und danach werden die Ergebnisse veröffentlicht. Damit wären wir schon sehr nah dran am Jahr 2030. Bis dahin bekommt man dann nicht mehr viel in die Praxis übertragen. Mindestens genauso wichtig wie das eher traditionelle wissenschaftliche Arbeiten ist also meiner Ansicht nach, dass wir Forschenden uns aktiv an der Auseinandersetzung über die Gestaltung der Transformation beteiligen. Dazu gehört eben auch solche Arbeit wie in der Enquete-Kommission in Bremen, wo wir mit Bremer Politiker*innen gemeinsam einen Klimaschutzplan für Bremen verfasst haben oder im wissenschaftlichen Beirat in Hamburg. Dort beraten wir eher und verfassen beispielsweise gemeinsam Empfehlungen an den Senat zu Klimaschutzthemen. Wie weit solche Beiträge in die Praxis umgesetzt werden, hängt aber am Ende stark von der politischen Stimmungslage und der Debatte in der Gesellschaft als Ganzes ab.
Bremen und Hamburg sind beide norddeutsche Städte und gleichzeitig Stadtstaaten. Stehen sie vor ähnlichen Herausforderungen?
Auf der Ebene der Verwaltung ähneln sich die Systeme in gewisser Hinsicht, aber es gibt natürlich auch sehr große strukturelle und maßstäbliche Unterschiede. In Hamburg leben etwa dreimal mehr Menschen als in Bremen und es hat fast zweieinhalb Mal mehr Fläche. Durch Hamburg laufen zwei große Autobahnverbindungen, es gibt entsprechend viel Durchgangsverkehr und auch mehrere Schnell- und Regionalbahnverbindungen in die Metropolregion, die zudem ein wesentlich größeres Einzugsgebiet darstellt als das Bremer Umland. Dennoch sind beide Städte stark vom Pendelverkehr geprägt, den sie nur in Zusammenarbeit mit anderen Bundesländern gestalten können. In Hamburg liegt der Hafen in der Stadt, wo auch alle Hafenhinterland-Verkehre beginnen und enden. Im zweigeteilten Bremen befindet sich der Hafen im viel kleineren Bremerhaven und viel Güterverkehr geht auf der Straße hin- und her. Zwar haben beide Städte ein Stahlwerk, aber im viel kleineren Bremen verursacht es anteilig fast die Hälfte der CO2-Emissionen.
Ist das ein Vorteil oder ein Nachteil für die Stadt?
Gute Frage: Auf der einen Seite ist es natürlich einfacher, eine sehr große Stellschraube zu haben. Wenn man an dieser erfolgreich dreht, können große Einsparungen realisiert werden. Aber das kann, gerade wenn es um einen privaten Betrieb geht, auch eine Herausforderung sein. Zwar wollen auch die Akteure auf der privatwirtschaftlichen Seite etwas bewegen und haben durchaus Ambitionen, aber dennoch ist es eine Ebene, die das Land Bremen nur zum Teil beeinflussen kann und die auch sehr stark zum Beispiel von globalen Entwicklungen beeinflusst wird. Städte mit weniger großen Einzelemittenten können vielleicht leichter viele kleinere Einsparungen erreichen, aber auf der anderen Seite ist es gerade auf der politischen Ebene mitunter schwer, diese dann genau zu beziffern. Gerade bei weniger populären Maßnahmen, zum Beispiel bei der Reduktion der Angebote für den motorisierten Individualverkehr, fällt die konkrete Berechnung der CO2-Einsparungen einer einzelnen Maßnahme oft schwer. Im Verkehr ist es eben alles deutlich vernetzter. Das macht es auf der einen Seite spannender, aber auf der anderen Seite eben oft auch schwieriger in der Kommunikation.
Das zeigt sich auch mit Blick auf die wichtige Sektorenkopplung. Sie hilft, mit erneuerbarem Strom die Sektoren Wärme und Verkehr zu dekarbonisieren und bietet gleichzeitig die dringend benötigte Flexibilität für den Stromsektor. Eine gut funktionierende Ladeinfrastruktur ist hierfür wichtig. Wie stark sind hier die Städte in der Verkehrs- und Stadtplanung gefordert?
Das ist in Städten tatsächlich eine Herausforderung: Wo kann ausreichend Ladeinfrastruktur in verdichteten Räumen zur Verfügung gestellt werden? Das spielt für die Nutzer*innen eine wichtige Rolle, aber natürlich auch, wenn wir die Batterien von E-Fahrzeugen als Energiespeicher in Zeiten schwacher Netznachfrage verwenden wollen, also insbesondere am Abend oder in der Nacht. In der Stadt hängen E-Fahrzeuge zukünftig nachts auf Firmengeländen oder Flächen der öffentlichen Verwaltung eher über längere Zeiträume an der Ladeinfrastruktur, aber für eine strategische Gestaltung benötigen die Verantwortlichen darüber noch eine bessere Datengrundlage. Im öffentlichen Raum sollen möglichst viele Menschen die Möglichkeit zum Laden haben, es geht hauptsächlich um ausreichend Stellflächen für allgemein zugängliche Ladesäulen und einheitliche Tarife. Dafür braucht es andere Kooperationen als bei einem privatwirtschaftlich betriebenen Tankstellennetz. Beide Varianten sind wichtig.
Ist das Thema Ladeinfrastruktur auch im ÖPNV relevant?
Ja. Gerade für die Busflotten, die deutlich ausgebaut und idealerweise auf 100 Prozent E-Mobilität umgestellt werden müssen, ist der Ausbau der Ladeinfrastruktur entscheidend. Die E-Flotten im Nahverkehr brauchen mehr Bushöfe, wo auch Ladeinfrastruktur zur Verfügung steht. Dafür wird man mehr Flächen benötigen. Hier stellt sich dann die Frage, ob man für dieses zusätzliche Angebot Flächen in der Stadt umnutzen muss und wenn ja, welche? Die Busse sollen ja möglichst wenig Leerfahrten machen, die keine Einnahmen generieren und sich negativ auf die Reichweite auswirken.
Und was bedeutet das in der Stadtplanung, wo wir ja auch oft schon ein Platzproblem haben, wenn man an den fehlenden Wohnraum in vielen Städten denkt. Doch mehr zu versiegeln, ist auch nicht die Lösung.
Prinzipiell ist es im Bereich der Stadtplanung vor allem aber wichtig, sich anzuschauen, wodurch die Nachfrage nach Mobilität entsteht und wie das Angebot für verschiedene Verkehrsträger gestaltet werden kann: Wie verteilen sich die Funktionen von Stadt in der Raumstruktur? Wie kann man möglichst kurze Wege gewährleisten? Wie kann der vorhandene öffentliche Raum so aufgeteilt werden, dass er eine insgesamt verträgliche Mobilität fördert? Für die Klimafolgenanpassung benötigen wir außerdem mehr Grün- und Wasserflächen in den Städten, um Extremwettereignisse wie Temperaturspitzen oder Starkregen besser ausgleichen und auch aushalten zu können. Durch maximale Nachverdichtung tun wir dem Stadtklima beziehungsweise der Bevölkerung also keinen Gefallen.
Sind die Kommunen finanziell gut genug aufgestellt, um diese komplexen Planungen durch- und umzusetzen?
Kommunale Finanzen sind immer ein Thema. Ich glaube, es gibt kaum eine Kommune, die sagt: Geld spielt für uns keine Rolle, zumal die Herausforderungen ja auch stetig wachsen: Umbau der Verkehrsinfrastruktur, leistbarer Wohnraum für alle, angemessene Unterbringung für Geflüchtete, sanierungsbedürftige Schulen, mehr Personalbedarf in den Behörden für die Bewältigung aller dieser Aufgaben sowie steigende Sozialausgaben und Energiekosten. Im Verkehrssektor spielt Kostenwahrheit diesbezüglich eine wichtige Rolle. Denn wenn man alle Schäden an der menschlichen Gesundheit, am Klima und an Umwelt und Natur mit berücksichtig, ist das, was wir für Mobilität bezahlen, lange nicht das, was sie uns als Gesellschaft kostet. Diese sogenannten externen Kosten des Verkehrs wurden 2019 in einer Studie mit ungefähr 149 Milliarden Euro beziffert - damals mit Werten für 2017. Der Straßenverkehr verursachte davon 95 Prozent. Wenn man solche Kosten mitberücksichtigt, also zum Beispiel bei Parkgebühren, im Rahmen einer Maut auch für Pkw und durch CO2-Abgaben, würde wesentlich mehr Geld im System zur Verfügung stehen. Das sollte man natürlich in einen nachhaltigen Um- und Ausbau investieren und um Härtefälle abzufedern – zum Beispiel durch vergünstigte ÖPNV-Karten für Geringverdienende oder finanzielle Unterstützung und flexible Mobilitätsformen in Gegenden, wo die meisten Haushalte eine normale Alltagsmobilität wegen des mangelhaften ÖV-Angebots ohne Auto einfach nicht hinkriegen können - zumindest bisher noch nicht. Insgesamt wissen wir ja auch, dass zu wenig Klimaschutz und eine verzögerte Anpassung an Klimafolgen im Endeffekt deutlich teurer werden als eine zielgerechte Transformation unserer System.
Das Interview führte Anika Schwalbe
Das Interview wurde vom BMWK im Rahmen des Projektes FLuxlicon gefördert.
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