"Energie als ein gesetzlich verankertes Grundrecht des Menschen sollte nicht Gegenstand von Spekulationen sein."

Die Abschöpfung von Mitnahmeeffekten, die sich aus dem Merit-Order-Modell auf dem Energie-Spotmarkt ergeben, sei daher sinnvoll, sagt Coralie Spitzner. Die Mitbegründerin des Ökostrom-Anbieters Fair Trade Power im Gespräch über die Bedeutung der Erneuerbaren in der Energiekrise und das Greenwashing der AKWs.

Frau Spitzner, Sie sind Mitbegründerin des Ökostrom-Anbieters Fair Trade Power und waren zuvor für die finanzielle Planung von Erneuerbaren Energieprojekten und in Australien als Projektmanagerin im Bereich der Erneuerbaren tätig. Wieso haben Sie sich entschieden, selbst erneuerbaren Strom an Kunden zu verkaufen?

Entwicklung und Bau eines Windparks dauern mindestens zehn Jahre. Das ist zu lang. Außerdem ist esCopyright: Thomas Bayer Fotografie, 2020 nur ein einziger Windpark. Um die Auswirkungen des Klimawandels zu mindern und eine nachhaltige Zukunft zu schaffen, sind größere, unmittelbarere Veränderungen in der Energieerzeugung notwendig.  
Sobald ein Kunde von einem Energieversorger fossiler Brennstoffe zu einem Energieversorger erneuerbarer Energien wechselt, hat dies unmittelbare Auswirkungen auf die CO2-Emission.
Wenn genügend Menschen das Gleiche tun, wirkt sich dies auf den gesamten Energiemix aus.  Ziel muss sein, Energie zu 100 Prozent aus erneuerbaren Energien zu gewinnen.

Vor diesem Hintergrund, was geht in Ihnen vor, wenn Sie die aktuelle Debatte zur Atomkraft als Retterin in der Energiekrise hören?


Ich glaube nicht, dass es sich um eine Debatte handelt, sondern eher um eine Greenwashing-Kampagne.

Mit einem Anteil von sechs Prozent an der gesamten Energieerzeugung in Deutschland im Jahr 2022 können die bestehenden AKWs wirklich keinen großen Einfluss auf die Energiekrise haben, geschweige denn als Retter angesehen werden. Diejenigen, die dieses Argument vorbringen, sind meiner Ansicht diejenigen, die aus ideologischer, finanzieller oder politischer Sicht vom Weiterbetrieb der AKW profitieren würden.

Nach Lektüre des Stresstests hat Wirtschaftsminister Robert Habeck nun angekündigt, zwei der drei noch am Netz befindlichen Atomkraftwerke Ende des Jahres in die Einsatzreserve zu schicken. Ist das notwendig?

Ist das "Sicherheitsnetz" gefährlicher als der Notfall? Das wird nur die Zeit zeigen. Die Entscheidung ist gefallen und wir werden alle damit leben müssen. Wenn sie uns nicht um die Ohren fliegen, wird man argumentieren, dass die Produktion von AKWs fortgesetzt werden sollte.  Die einzigen, denen das hilft, sind die Betreiber der AKWs. 

Am Ende dieser Notstandsperiode wird die Kernenergie immer noch zu teuer, zu gefährlich, zu umweltschädlich und eigentlich überflüssig sein.

In Umfragen sprachen sich zuletzt über 80 Prozent der Befragten für einen Streckbetrieb der deutschen AKWs aus. Gleichzeitig sieht die Bevölkerung mit Sorge auf die ukrainischen AKWs, die im Angriffskrieg durch Russland zu gefährlichen Zielen geworden sind. Selbst die Internationale Atomenergie-Organisation fordert sofortige Maßnahmen, um ein Unglück beim AKW Saporischschja zu verhindern. Wie passt das zusammen?

Das passt nicht zusammen und deshalb werden diese beiden Sichtweisen im Allgemeinen nicht zusammengebracht.

Das Gesetz der Trägheit macht es den Menschen leicht zu glauben, dass das, was geschieht, auch weiterhin geschehen wird.  Das heißt, wenn die AKWs in Deutschland schon seit einiger Zeit ohne Zwischenfälle laufen, denkt man, dass das auch so bleiben wird.  Und wenn sich dadurch die finanziellen und persönlichen Auswirkungen der Energiekrise verringern, ist das natürlich für sie eine gute Sache. So entsteht leicht ein Ergebnis mit 80%iger Zustimmung.

Die große Gefahr mit der Atomenergie in der Ukraine ist für viele weit weg, in einem anderen Land. Aber im Falle eines Reaktorunfalls, das weiß jeder spätestens seit Tschernobyl, ist das gar nicht mehr so weit weg. Und wenn die AKWs in Deutschland weiterbetrieben werden, könnte es schnell auch ganz nah sein.

Die Energiekrise zeigt die Wichtigkeit des Ausbaus Erneuerbarer Energien und die Hindernisse, mit denen die Projektierer zu kämpfen haben. Gleichzeitig wird nun die „Abschöpfung von Zufallsgewinnen“ geplant. Diese bezieht auch die Erzeuger von erneuerbarem Strom mit ein. Wie beurteilen Sie das?

Energie als ein gesetzlich verankertes Grundrecht des Menschen sollte nicht Gegenstand von Spekulationen sein, ebenso wenig wie Nahrungsmittel, Gesundheitsversorgung und Bildung. Als Purpose Company ist Fair Trade Power der Ansicht, dass Energie zu 100 Prozent ökologisch und erneuerbar sowie fair und sozial sein sollte. Die Abschöpfung von Mitnahmeeffekten, die sich aus dem Merit-Order-Modell auf dem Energie-Spotmarkt ergeben, ist daher sinnvoll.  Diese sollten dann in erneuerbare Energieprojekte investiert werden, die zum Strukturwandel beitragen und der Allgemeinheit zugutekommen sowie die finanzielle Not der Einkommensschwächeren verringert.

Für jede Kilowattstunde Ökostrom, die Fair Trade Power verkauft, werden 0,5 - 1,5ct in neue und innovative erneuerbare Energieprojekte investiert. Hat der gestiegene Strompreis hieran etwas geändert?

Nein, absolut nicht. Zusammen mit unseren Kundinnen und Kunden stehen wir selbstverständlich zu unserer Zusage, weiterhin Investitionen in Erneuerbare zu tätigen. Das schreibt im Übrigen auch unsere Grüner-Strom-Zertifizierung vor.

Zudem werden wir neben der 0,5 bis 1,5Cent pro Kilowattstunde mehr Mittel in direkte Verträge mit Eigentümern von Solar- und Windkraftanlagen investieren, um von den Energiebörsen unabhängig zu werden und bezahlbare Energie liefern zu können. Etwas, was viele Menschen nach dieser turbulenten Zeit begrüßen werden.  

Ist die Nachfrage nach Ihrem erneuerbaren Strom gestiegen?

Ja, denn immer mehr Menschen werden sich des Ernstes der Lage bewusst und erkennen, dass sie es selbst in der Hand haben, die Situation zu ändern. Und es ist wichtig, regelmäßig daran erinnert zu werden. Dies ist ein weiterer Grund, warum wir uns der Kampagne "Erneuerbare Energien statt Kernenergie" angeschlossen haben, denn wenn ein stromintensives Wirtschaftsland wie Deutschland seine Kohlendioxidemissionen ohne Rückgriff auf Kernenergie reduzieren kann, dann kann das jedes andere energieintensive Wirtschaftsland auch tun.




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