Energie-Kommune des Monats: Tübingen
November 2024
Die baden-württembergische Universitätsstadt Tübingen mit rund 93.000 Bewohner*innen ist nicht nur bekannt für ihre historische Altstadt und die traditionsreiche Eberhard-Karls-Universität, sondern auch für ihre wegweisenden Schritte in Sachen Klimaschutz und Nachhaltigkeit. Um das ehrgeizige Ziel, bis 2030 klimaneutral zu werden, zu erreichen, hat Tübingen in den vergangenen Jahren eine Reihe von Maßnahmen ergriffen und plant, in Zukunft weitere umzusetzen. Dazu gehören maßgeblich die massive Erhöhung des Anteils der Erneuerbaren Energien am Energieverbrauch und die Umsetzung des zukunftsorientierten Mobilitätskonzepts.
Der „Tübinger Weg“: Klimaneutral durch Strom aus Erneuerbaren
Von 2006 bis 2019 wurde der CO2-Ausstoß pro Kopf in Tübingen fast doppelt so stark reduziert wie im Rest der Bundesrepublik: um 40 Prozent. Doch das ist erst der Anfang des „Tübinger Wegs“. Das selbstgesteckte Ziel der Stadtwerke Tübingen, bis Ende des Jahres 2024 75 Prozent des Tübinger Gesamtstromverbrauchs aus eigenen Erneuerbare-Energien-Anlagen zu decken, wurde bereits Anfang des Jahres erreicht. Dafür sorgte vor allem der stetige Ausbau der Erneuerbaren Energien, der in Tübingen im Zentrum der kommunalen Energiepolitik steht. Die Stadtwerke diversifizieren ihren Energiemix mit einem Mix aus Solar-, Wind-, Wasser- und Bioenergie und durch eine Bandbreite von Maßnahmen, wie Hanno Brühl, Bereichsleiter Energie & Innovation bei den Stadtwerken Tübingen, erklärt: „Wir setzen auf bekannte und bewährte Techniken. Für Private, Wohnbaugesellschaften und Betriebe bieten wir erfolgreich das „swt-Energiedach“ (Photovoltaik) an. Dieses Jahr konnten wir die zweite PV-Freiflächenanlage in Tübingen ans Netz bringen. Für ein Neubaugebiet haben wir ein kaltes Nahwärmenetz aufgebaut, das Energie aus dem Grundwasser zieht. Ab nächstem Jahr speist eine 7 Megawatt-Solarthermie-Freiflächenanlage Wärme ins Fernwärmenetz ein. Und für 2028 hoffen wir darauf, dass sich die ersten Windräder auf dem Tübinger Gemeindegebiet drehen und eine Großwärmepumpe die Abwärme aus dem Klärwerk für die Fernwärme nutzbar macht.“
Seit 2003 werden sowohl kleinere Photovoltaikanlagen auf Gebäudedächern in und um Tübingen sowie große Freiflächensolaranlagen betrieben. Bereits seit 2018 ist die Installation von PV-Anlagen auf Neubauten in Tübingen Pflicht. Im Mai 2024 ging mit dem Solarpark „Traufwiesen” der Stadtwerke Tübingen der mit über 15.000 Photovoltaik-Modulen größte Solarpark der Region in Betrieb. Beeindruckend ist nicht nur die Größe und Leistung von 8.800 Megawattstunden (MWh), sondern auch die geringe Bauzeit von nur vier Monaten. Der Solarpark setzt außerdem erstmals das Agri-Photovoltaik-Konzept um, bei dem der Raum unter den Photovoltaikmodulen landwirtschaftlich genutzt wird: In Traufwiesen werden Pilze unter den Modulen des Solarparks angebaut. Weitere großflächige Photovoltaikanlagen der Stadtwerke Tübingen sind der Solarpark "Lustnauer Ohren" mit einer jährlichen Stromproduktion von über 1.150 MWh Strom und die Photovoltaikanlage „Westspitze Güterbahnhof“, die direkt in der Innenstadt jährlich 80 MWh Strom produziert.
Auch die Nutzung von Wasserkraft hat in Tübingen Tradition. 1911 und 1929 wurden die ersten zwei Wasserwerke am Neckar errichtet, mit denen heute noch Strom gewonnen wird und die 2011 um eine weiteres Flusswasserkraftwerk in Horb am Neckar ergänzt wurden. Dazu sollen in Zukunft auch Windanlagen im Tübinger Gemeindegebiet kommen.
Alle Möglichkeiten zur Energiewende nutzen
In Sachen Wärme setzt Tübingen ebenfalls auf den Ausbau der Erneuerbaren. Die Stadtwerke wollen bis 2027 100 Millionen Euro in den Bau von Erzeugungsanlagen auf Basis Erneuerbarer Energien und die Erweiterung des Fernwärmenetzes investieren. Bereits etwa 1.800 Gebäude sind an das Fernwärmenetz angeschlossen, das laufend erweitert wird. Besonders im Bereich Wärme wird die Relevanz der Sektorenkopplung deutlich. So werden zum Beispiel die im Klärwerk anfallenden Faulgase mittels Blockheizkraftwerk (BHKW) zu Wärme und Strom umgewandelt. In Zukunft soll auch die Wärme des Abwassers genutzt werden, indem mit dieser eine Wärmepumpe zur Wärmeversorgung der Stadt betrieben wird. Zudem trägt unter anderem der Solarthermiepark „Au“ als einer der größten Solarthermieparks in Süddeutschland maßgeblich zur Tübinger Wärmewende bei.
Die Integration verschiedener Energiequellen sichert Tübingen eine stabile und nachhaltige Energieversorgung und fördert lokale Betriebe und die Wirtschaft. „Die Erneuerbaren Energien halten zum einen die Wertschöpfung in der Region und reduzieren zum anderen die Energieimportrisiken“, so Bernd Schott, Umwelt- und Klimaschutzbeauftragter der Universitätsstadt Tübingen. Außerdem ginge es nicht allein um den Ausbau der Erneuerbaren, sondern auch um Einsparung und Effizienz: „In allen energieverbrauchenden Bereichen braucht es deutliche Veränderungen. Es gelten die drei Es: Energiesparen, Energie effizient einsetzen und Erneuerbare Energie verwenden. Dies gilt für Strom, Wärme, Mobilität und Konsum.“ Ein Beispiel, wie Tübingen den Energieverbrauch reduziert, sind die modernen intelligenten LED-Straßenbeleuchtungen im Stadtteil Hirschau. Diese sind mit Bewegungsmeldern ausgestattet und untereinander durch ein Funknetz verbunden. So können die Lampen Informationen austauschen und die Beleuchtung je nach Bedarf dimmen oder stärken. Auf diese Weise werden im Stadtteil etwa 80 Prozent des Beleuchtungsstroms eingespart. Bis 2030 sollen alle Straßenlaternen auf die neue Technologie umgerüstet werden.
Innovatives Mobilitätskonzept: Klimafreundliche Fortbewegung für alle
Neben dem Ausbau der Erneuerbaren Energien setzt Tübingen auf ein zukunftsweisendes Mobilitätskonzept, um den innerstädtischen Verkehr klimaschonend zu gestalten. In diesem Bereich ist Tübingen besonders innovativ und zeigt, wie eine Verkehrsplanung aussehen kann, die sowohl die Lebensqualität der Bewohner*innen verbessert als auch den ökologischen Fußabdruck der Stadt verringert. „In Tübingen setzen wir seit vielen Jahren auf ‚die Stadt der kurzen Wege‘, die Stärkung des Umweltverbundes inklusive Carsharing und eine Umverteilung des öffentlichen Raumes zugunsten des Rad- und Fußverkehrs. Allein für den Radverkehr investieren wir dabei aktuell rund 80 Euro pro Einwohner. Unser Modal-Split spricht für sich. Drei Viertel der Wege im Binnenverkehr werden mit dem ÖPNV, dem Rad oder zu Fuß zurückgelegt“, sagt Bernd Schott.
Ein Kernstück des Modal-Splits, die Aufteilung des Verkehrs auf verschiedene Verkehrsmittel, in Tübingen ist die Förderung des öffentlichen Personennahverkehrs. Autos stehen hier nicht an erster Stelle. So wurden beispielsweise die Preise der Anwohner*innenparkausweise stark erhöht, um den ÖPNV attraktiver zu machen und Bürger*innen einen Anreiz zu bieten, vom Auto auf umweltfreundliche Alternativen umzusteigen. Ein gut vernetztes und eng getaktetes Bussystem sorgt dafür, dass die Nutzung des ÖPNV komfortabel und effizient ist. Samstags ist das Busfahren mit dem Stadtbus in Tübingen kostenlos und Tübingens Bewohner*innen erhalten von der Stadt einen Zuschuss für das Deutschlandticket.
Parallel dazu investiert die Stadtverwaltung stark in den Ausbau der Fahrradinfrastruktur. Ein Beispiel ist der Bau des Fahrradparkhauses nach niederländischem Vorbild auf dem Europaplatz beim Hauptbahnhof in der Innenstadt. Neben kostenlosen, sicheren Abstellmöglichkeiten bietet das Fahrradparkhaus außerdem einen Verleih-, Reparatur- und Waschservice, um den Umstieg vom Auto auf das Fahrrad für Pendler*innen attraktiver zu machen. Durch den Ausbau der Radinfrastruktur wie der neuen, im Winter beheizten „Radbrücke West“ und die Einführung von Fahrradstraßen wird das Radfahren in der Stadt sicherer und komfortabler. Tübingen setzt dabei auf durchgängige Fahrradverbindungen wie das „Blaue Band“, eine Fahrradvorrangstraße, die quer durch die Stadt führt, und möchte das städtische Fahrradnetz an Radschnellwege aus dem Umland anschließen. Indem die Stadt S-Pedelecs auf den meisten Fahrradwegen erlaubt, wird der Verzicht auf das Auto auch für größere Distanzen attraktiver gemacht.
Außerdem bieten die Stadtwerke Tübingen ein umfangreiches Carsharing-Programm an, das insbesondere für Menschen ohne eigenes Auto eine Mobilitätslösung darstellt. Über 100 Carsharing-Fahrzeuge stehen an verschiedenen Standorten zur Verfügung, allesamt Elektrofahrzeuge. Seit Mai 2024 ergänzen die Stadtwerke das Angebot auch um sogenanntes „Free Floating“. Das bedeutet, dass einige der Carsharing-Fahrzeuge flexibel im gesamten Nutzungsbereich abgestellt und angemietet werden können, ohne auf für Carsharing ausgeschriebene Abstellorte achten zu müssen. Insgesamt ist die Förderung der Elektromobilität ein zentraler Aspekt im Mobilitätskonzept der Stadt. So fördern die Stadtwerke beispielsweise für Kund*innen die Anschaffung eines E-Bikes mit 100 Euro.
Rückhalt in der Bevölkerung
Bei allen Maßnahmen zur Energie-, Wärme- und Mobilitätswende ist der Rückhalt der Bevölkerung unabdingbar. Der sei in Tübingen vorhanden, so Oberbürgermeister Boris Palmer. „Unser Vorgehen erhält seit über 15 Jahren starke Rückendeckung aus dem Gemeinderat und aus der Stadtgesellschaft. Dies haben wir uns durch ein stets pragmatisches und glaubwürdiges Engagement für den Klimaschutz erarbeitet. Unsere Bewohnerinnen und Bewohner sehen aktuell, dass wir insbesondere an der Infrastruktur für die Wende arbeiten. Es gibt viele Baustellen: Neue Radbrücken, neue Fernwärmeleitungen, neue Solaranlagen. Gleichzeitig unterstützen wir durch Fördermittel und Beratung Privatpersonen und Betriebe beim Klimaschutz. Ob Lastenräder, Photovoltaik, Sanierung und vieles mehr.“
Tübingen demonstriert deutlich, wie engagiert und lösungsorientiert zukunftsweisende Stadtplanung und die Energiewende auf der Basis vorhandener Technologien umgesetzt werden können. Laut Boris Palmer zeichnet sich der „Tübinger Weg“ besonders durch zwei Aspekte aus und kann für andere Kommunen ein Vorbild sein: „Erstens, die enge Zusammenarbeit auf allen Ebenen zwischen Stadtwerken und Stadtverwaltung. In beiden Organisationen ist dabei die Mobilitäts- und Energiewende Chefsache. Zweitens, unser Mut zu neuen Wegen […]. Die unzähligen Anfragen, die wir zu unserem Vorgehen aus ganz Deutschland und auch international erhalten, zeigen, wir sind als gutes Vorbild bekannt. Voneinander lernen ist in der kommunalen Familie insgesamt gut eingeübt.“
Die Auszeichnung zur Energie-Kommune des Monats steht unter der Schirmherrschaft des Bundesministeriums für Wirtschaft und Klimaschutz.
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