Energie-Kommune des Monats: Neustadt-Glewe
Juni 2024
Im Südwesten Mecklenburg-Vorpommerns sind knapp 7.000 Menschen in Neustadt-Glewe zuhause. Die Kleinstadt, die auch „Tor zur Lewitz“ genannt wird, grenzt an die größte zusammenhängende Wiesenlandschaft Deutschlands – die Lewitz. Nicht nur weitläufige Wiesen- und Ackerareale begeistern Besucher*innen, ebenso charakterisieren Fischteiche, Waldstücke und zahlreiche Wasserstraßen das Landschaftsschutzgebiet. Dabei lohnt sich ein Blick auf Neustadt-Glewe nicht nur aus landschaftlicher Perspektive, die Kommune ist auch Pionier in der Energiewende. Die Kleinstadt hat sich zum Ziel gesetzt, bereits bis 2030 eine CO2-neutrale Bilanz aufzuweisen
Neustadt-Glewe ist mit Tiefengeothermie ein Pionier der Wärmewende
Die Erdwärme vor Ort trägt maßgeblich dazu bei, dass dieses selbst gesteckte, ambitionierte Ziel erreicht werden kann. Erdwärme, die unter der Erdoberfläche gespeicherte Wärmeenergie, wurde bereits vor 2000 Jahren von den Römern genutzt. Geothermische Quellen versorgten die Thermalbäder mit heißem Wasser aus den Tiefen der Erde und ermöglichten ein angenehmes Badeerlebnis. Heute ist Erdwärme vor allem für die Wärmeversorgung relevant und wird als ein wesentlicher Baustein für das Gelingen der Wärmewende angesehen. Während viele Kommunen derzeit mit einer kommunalen Wärmeplanung an der Dekarbonisierung des Wärmesektors arbeiten, setzt Neustadt-Glewe mit seinem Tiefengeothermie-Heizwerk auf emissionsfreie Erdwärme.
Seit 1994 nutzt die Stadt ein Geothermie-Heizwerk zur Wärmeerzeugung und ist damit Vorreiter in ganz Deutschland. Bei der Tiefengeothermie werden Bohrungen in mehrere Tausend Meter Tiefe gesetzt und heißes Thermalwasser an die Oberfläche gefördert, wo die Wärme aus dem Erdinneren weitergenutzt wird. Da hierbei keine Treibhausgase emittiert werden und Erdwärme keinen Schwankungen durch Wetter, Tages- und Jahreszeiten unterliegt, kann Geothermie einen wichtigen Beitrag zur klimaneutralen und sicheren Wärmeversorgung leisten. Der Anteil der Tiefengeothermie am deutschen Wärmeverbrauch ist bislang jedoch noch gering. Gründe dafür sind zum einen die anfänglich hohen Investitionskosten für Bohrungen und zum anderen, dass sich nicht alle Regionen für tiefe Geothermie eignen. Im sogenannten Norddeutschen Becken, in dem Neustadt-Glewe liegt, sind die die Bedingungen für Tiefengeothermie aufgrund gut zugänglicher Thermalwasserfelder aber besonders günstig. Nichtsdestotrotz besteht noch großes Potenzial in der Region: Neben Neustadt-Glewe wird in Mecklenburg-Vorpommern bislang nur an zwei weiteren Standorten Tiefengeothermie für die Wärmeversorgung eingesetzt.
Nach anfänglichen Verzögerungen fördert die Geothermie-Anlage seit 30 Jahren Erdwärme für die Region
Entdeckt wurde das Thermalwasservorkommen Neustadt-Glewes eher zufällig bei Bohrungen nach Erdgas und Erdöl in den 1960er Jahren. Da eine alternative Energieversorgung über ein Fernwärmenetz zunehmend wichtiger wurde, um den Energiebedarf decken zu können, sollte die Erdwärme schließlich auch als Energiequelle erschlossen werden. 1988 wurde eine erste Bohrung mit einer Tiefe von 2.455 Metern vorgenommen. Aufgrund der wirtschaftlichen Umbrüche im Zuge der deutschen Wiedervereinigung verzögerte sich allerdings die weitere Projektumsetzung. Schließlich konnte 1993 mithilfe eines Förderprogramms des Bundesforschungsministeriums eine zweite Bohrung gesetzt und das Geothermie-Heizwerk fertig gestellt werden. Seit 1994 stellt die Anlage jährlich etwa 20 Millionen Kilowattstunden (kWh) umweltfreundliche Heizwärme für Neustadt-Glewe bereit. Auf einer Anzeige am Heizwerk kann man rund um die Uhr einsehen, wie viel CO2 die geothermische Wärmeversorgung seit Inbetriebnahme eingespart hat. Bis 2023 waren das gegenüber fossiler Wärme bereits 124.000 Tonnen.
Neben der Vermeidung von Treibhausgasen hat die dezentrale Wärmeerzeugung der ortsansässigen Geothermieanlage auch eine wirtschaftliche Bedeutung für die Region. Betrieben wird sie durch die Erdwärme Neustadt-Glewe GmbH, deren Hauptgesellschafterin die Stadt Neustadt-Glewe ist. Daneben hält die mea Energieagentur Mecklenburg-Vorpommern, eine hundertprozentige Tochter des regionalen Energieversorgers WEMAG AG, die restlichen Anteile am Unternehmen. 2003 folgte dann in Neustadt-Glewe das erste geothermische Heizwerk zur Stromerzeugung in ganz Deutschland. Mit der vergleichsweise niedrigen Temperatur des Thermalwassers erreichte die Stromerzeugungsanlage jedoch nur eine geringe Nettoleistung von 40 Kilowatt (kW). Aufgrund eines technischen Defekts im Jahr 2010 konnte die Anlage schließlich nicht mehr wirtschaftlich betrieben werden, eine Reinvestition wäre finanziell unrentabel gewesen. Seitdem wird das Geothermiewerk wieder ausschließlich zur Wärmeversorgung genutzt.
Aus der Erde zu den Bürger*innen – so funktioniert die geothermische Wärmeversorgung in Neustadt-Glewe
Das Thermalwasser in 2.455 Metern Tiefe wird durch eine Unterwasserpumpe an die Oberfläche gefördert. Im Heizwerk wird das 97 Grad Celsius heiße Wasser anschließend in einen Wärmetauscher geleitet, wo es das Heizwasser des Fernwärmenetzes erhitzt. Die abgekühlte Thermalsole wird durch eine zweite Bohrung wieder in die Gesteinsschichten zurückgeleitet, wodurch ein geschlossener Kreislauf entsteht. Auch der Strom, der für die Unterwasserpumpe benötigt wird, wird in einem Blockheizkraftwerk selbst erzeugt. Vom Geothermie-Heizwerk am Rande der Stadt wird die geförderte Erdwärme anschließend über ein 15 Kilometer umspannendes Fernwärmenetz an die Verbraucher*innen geleitet. Mit der Erdwärme werden der kommunale Wohnungsbau und städtische Gebäude, wie das Rathaus, Kindergärten und Schulen, ja sogar die mittelalterliche Burg in der Innenstadt beheizt. Vor allem beziehen aber die Bürger*innen Neustadt-Glewes die klimafreundliche Wärme: Bereits 70 Prozent der privaten Haushalte sind an das Fernwärmenetz angeschlossen.
Durch das dezentrale Wärmesystem sind die Kosten für die Erdwärme unabhängig von steigenden Öl- und Gaspreisen. Neben der Preisstabilität überzeugen auch die geringen Energiekosten. Während die Investitionskosten für tiefe Geothermie zu Beginn sehr hoch sind, ist der laufende Betrieb dann relativ günstig. Zudem können sich Bürger*innen beim Anschluss an das Wärmenetz beziehungsweise die dafür notwendigen baulichen Maßnahmen mit bis zu 45 Prozent Fördersatz vom Bund finanziell unterstützen lassen. Für die Betriebe ist die Erdwärme ebenfalls ein überzeugendes Argument, mit dem die Stadt aktiv wirbt. Das städtische Gewerbegebiet „Lederwerk“ ist das Einzige in ganz Norddeutschland, welches mit Geothermie versorgt wird. Besonders attraktiv ist das für wärme- und kühlintensive Unternehmen, die auf eine zuverlässige Energieversorgung mit stabilen und kostengünstigen Preisen angewiesen sind.
Das große Interesse am Anschluss ans Fernwärmenetz bestätigt die Erdwärmeförderung
Die Vorteile der geothermischen Wärme liegen auf der Hand. Insofern verwundert es nicht, dass sich immer mehr Verbraucher*innen für einen Anschluss an das klimaneutrale Fernwärmenetz interessieren. Bis 2023 wurden insgesamt 14,6 Millionen Kubikmeter (m³) Thermalsole gefördert. Um die wachsende Nachfrage nach Erdwärme zu bedienen und die Stadt weiter zu dekarbonisieren, wurde eine Steigerung der Förderleistung zunehmend notwendig. Eine finanzielle Förderung durch das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz ermöglichte 2023 schließlich eine drei Millionen Euro teure Investition. Um eine separate, kostspielige Bohrung zu vermeiden, wurde die bereits bestehende Bohrung durch einen sogenannten Sidetrack erweitert. In 1.500 Metern Tiefe wurde an der Bohrung eine Art Abzweigung zugebaut, welche 120 Meter wegführt und dort zusätzliche Sole fördert. Durch die Steigerung der Leistung von 13 auf 15 Megawatt kann das Heizwerk nun zusätzliche Haushalte mit Wärme beliefern. Insgesamt werden 376 Kund*innen mit klimafreundlicher Erdwärme versorgt. Damit die geförderte Wärme zu den Verbraucher*innen gelangt, baut Neustadt-Glewe das eigene Fernwärmenetz kontinuierlich aus. Derzeit ist geplant, die Liebssiedlung an das Netz anzuschließen.
Ganzheitliche Maßnahmen zur Reduzierung von Treibhausgasen
Die Stadt ruht sich jedoch nicht auf ihren Erfolgen im Wärmesektor aus, sondern setzt auch im Stromsektor auf Erneuerbare Energien. 2020 wurde eine Freiflächen-Photovoltaikanlage mit einer Leistung von 3,35 Megawatt-Peak auf dem ehemaligen Gewerbegebiet errichtet, sodass die Fläche trotz spezieller Anforderungen durch Bodenkontamination sinnvoll genutzt werden kann. Zudem wird voraussichtlich 2025 eine Biogasanlage in Neustadt-Glewe in Betrieb genommen. Die Modell- und Demonstrationsanlage „Biogasanlage Lewitz“ wird mit einer Produktionsleistung von etwa 1.000 Normvolumenstrom pro Stunde Biomethan erbaut, wobei das Gas anschließend zu LNG (Liquid Natural Gas) verflüssigt wird. Dabei soll ein innovativer Prozess zur Vergärung von Pferdemist entwickelt werden, mit dem Ziel, Kraftstoffe aus dem Biomethan herzustellen. Das Projekt wird wissenschaftlich begleitet vom Institut für Biogas, Kreislaufwirtschaft und Energie (IBKE). Daneben könnte Neustadt-Glewe bald eigenen Windstrom erzeugen. Die Errichtung und der Betrieb von zwei Windenergieanlagen auf der Gemeindegemarkung wurde bereits beantragt.
Um erneuerbaren Strom aus Wind- und Solarenergie von der Produktion zeitlich entkoppeln zu können, nimmt die Bedeutung von Stromspeichern kontinuierlich zu. Das wurde auch in Neustadt-Glewe erkannt, wo 2018 auf dem Gelände des Erdwärmewerks eine Batteriespeicherstation installiert wurde. An diesem Speicher-Prototyp testet der regionale Energieversorger neue Software und Steuerungstechnik, um die Entwicklung der Technologie voranzutreiben. Die Batteriestation weist eine Leistung von 750 kW und eine Speicherkapazität von 925 kWh auf. Neben der stärkeren Integration von Erneuerbaren Energien sowie einer Verbesserung der Netzstabilität, dient er auch der Mobilität. An den Stromspeicher ist eine E-Ladesäule angeschlossen, sodass Mitarbeiter*innen auf dem Gelände Elektroautos mit eingespeichertem Strom laden können. Auch die Kommune engagiert sich im Verkehrsbereich und bezieht alle Mobilitätsarten in ihre Planungen ein. Mit verschiedenen Maßnahmen aus einem Verkehrsentwicklungskonzept soll die Verbesserung sowohl von Gesundheits- und Lärmschutz als auch von Klima- und Umweltschutz stärkere Berücksichtigung finden.
Die Auszeichnung zur Energie-Kommune des Monats steht unter der Schirmherrschaft des Bundesministeriums für Wirtschaft und Klimaschutz.
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