Gemeinde Flecken Steyerberg
Januar 2020
Acht Ortsteile und rund 5.200 Einwohner*innen bilden den Flecken Steyerberg in Niedersachsen. Seit 2016 gehört die Gemeinde als bundesweit kleinste zu 41 Masterplan-Kommunen, einem Projekt der Nationalen Klimaschutzinitiative (NKI) des Bundesumweltministeriums. Die Gemeinde hat das Ziel, als nachhaltig agierende 100 Prozent-Erneuerbare-Energien-Region bis 2050 eine Reduktion der Treibhausgasemissionen von 95 Prozent verglichen mit 1990 zu erreichen. Energie aus Wind, Sonne, regionalen Rohstoffen und Wasser sind in der Gemeinde ebenso anzutreffen wie engagierte Bewohner*innen, die z. B. mit Hilfe einer Genossenschaft das im Bau befindliche Fernwärmenetz finanzieren.
Heinz-Jürgen Weber ist seit Ende 2013 Bürgermeister im Flecken Steyerberg und maßgeblich an der Umsetzung des Masterplans beteiligt. Begleitet wird der Prozess von der Masterplanmanagerin Sabine Schröder. Wir haben uns mit beiden anlässlich der Auszeichnung zur Energie-Kommune des Monats zu bisher umgesetzten Projekten, neuen Zielen und sozialer Verantwortung unterhalten.
Interview mit Heinz-Jürgen Weber und Sabine Schröder
Energiewende und Akzeptanz gehören unweigerlich zusammen. Wie wurde im Flecken Steyerberg sichergestellt, dass Anwohner*innen an der Energiewende beteiligt werden? Wurden sie in Planungsprozesse einbezogen? Wenn ja, wie wurde das moderiert?
Weber: Es gab ständig Bürgerbeteiligung in den unterschiedlichen Projekten im Rahmen des Masterplans. Beispielsweise sind bei der Entwicklung des E-Mobilitätskonzept bei uns ca. 3.000 Bürgerinnen und Bürger nach ihren Bedürfnissen befragt und beteiligt worden. Insbesondere wenn es um die Umsetzung von erneuerbaren Energietechnologien, wie Windenergie und Photovoltaik geht, versuchen wir, dass die Bürgerinnen und Bürger an den Projekten partizipieren können. Bei der Windenergie kann das in Form von Bürgerwindenergieanlagen geschehen. Aber nicht jede und jeder ist in der Lage, sich mit etwa 5.000 Euro an einer Windenenergieanlage zu beteiligen. Deswegen wird es auch einen sogenannten Stromtarif „Flecken Steyerberg“ geben, der 10-15 Prozent unter dem ortsüblichen Preis liegt, wenn das Repowering des Windparks abgeschlossen ist. Falls alle Anwohnenden diesen Stromtarif beziehen, können wir nicht nur sagen, dass wir bilanziell 100 Prozent Erneuerbare Energien haben, sondern dann haben wir sie tatsächlich.
Ein weiteres Projekt ist das deutschlandweit größte Fernwärmenetz im ländlichen Raum, das sich derzeit im Bau befindet. Das ist über unsere Genossenschaft geregelt, dementsprechend finanzieren Bürgerinnen und Bürger ihr eigenes Unternehmen, wodurch sie später von der Belieferung mit günstiger Wärme und Warmwasser profitieren.
Welche Erfahrungen haben Sie mit der Bürger*innenbeteiligung gemacht und was empfehlen Sie anderen Kommunen?
Weber: Das muss man unterteilen: Wenn es um Projekte der Beteiligung an Wind-, Photovoltaikanlagen oder Fernwärmeprojekten geht, ist es ziemlich einfach. Bei anderen Projekten haben wir zuerst Absprachen mit Akteuren getroffen, mit denen wir auf der gleichen Wellenlänge sind. Dieser Kreis wurde dann stetig vergrößert. Unsere ersten Erfahrungen waren, dass man bei Veranstaltungen immer diskutieren musste, warum das Klima und die Umwelt so stark thematisiert wird. Das war eine Endlosdiskussion, die verhinderte, konkrete Inhalte auszuarbeiten. Deshalb bemerken wir sehr positiv, dass eine Besprechung einer Projektidee mit uns bekannten Akteuren hilfreich ist, bevor wir dann die Bevölkerung einbeziehen.
E-Mobilität spielt im Flecken Steyerberg ebenfalls seit den 1990er Jahren eine wichtige Rolle. 1991 wurde hier Niedersachsens erste Tankstelle für Elektrofahrzeuge in Betrieb genommen. Ist es im ländlichen Raum schwerer als in Städten, auf nachhaltige Mobilität umzusteigen?
Weber: Ich glaube, im ländlichen Räum geht E-Mobilität wesentlich leichter als in Städten, da etwa 95 Prozent der Bevölkerung in unserer Gemeinde im eigenen Haus wohnt. Dort haben sie eine Garage, ein Carport und eine Steckdose. Somit ist die Ladeinfrastruktur für 92 Prozent der täglichen Fahrten abgedeckt. Dies ist das Ergebnis aus dem E-Mobilitätskonzept, das wir zusammen mit zwei weiteren Kommunen erarbeitet haben: Unsere Nachbarkommune Liebenau und Saerbeck aus Nordrhein-Westfalen. 80 Prozent der Fahrten liegen unter einer Distanz von 60 Kilometern und 92 Prozent unter 100 Kilometern. Das heißt, jedes E-Auto kann für eine Fahrt bis zu einer Distanz von 100 Kilometern an einer normalen Schuko-Steckdose, bei besonderer Absicherung, zuhause vollgeladen werden. Deswegen ist die Ladeinfrastruktur für die alltäglichen Fahrten auf dem Land kein Problem.
Welche Mobilitätsangebote haben Sie in der Gemeinde?
Weber: Die Kommune hat eine Schnellladesäule (drei Ladepunkte) vor dem Rathaus und eine weitere Säule mit zwei Ladepunkten im Ortsteil Deblinghausen stehen, die sie selber betreibt. Insgesamt besitzen wir acht Ladepunkte in der Gemeinde, da Privatleute ihre Ladepunkte auch zur Verfügung stellen.
Wir haben einen E-Bus mit neun Sitzen, mit dem wir auch ein soziales Projekt verbinden, um ältere Bürgerinnen und Bürger, die nicht mehr mobil sind, einzubinden. Sie werden von Ehrenamtlichen abgeholt, zum Arzt und zum Einkaufen gefahren. Das bringt ihnen nicht nur mehr Mobilität, sondern wirkt auch der sozialen Verarmung entgegen. Die Ehrenamtlichen berichten, dass die Freude groß ist, wenn die Leute in den Bus einsteigen und andere Menschen treffen. Der Bus steht auch allen Vereinen zur Verfügung. Für eine Fußballmannschaft können zum Beispiel acht Kinder transportiert werden, die sonst in zwei verschiedenen Autos fahren müssten. Außerdem fährt der Bus sogar elektrisch. Die Gemeinde hat schon seit Jahren zertifizierten Grünstrom, sodass alle Ladestationen damit gespeist werden und wir absolut CO2-frei fahren.
Zusätzlich soll das Car Sharing ausgebaut werden. Nach Dienstschluss sollen die zwei E-Autos der Verwaltung dafür zur Verfügung gestellt werden. Ein Ziel ist es, die Fahrzeuge ständig zugänglich zu machen, dann müsste auch die Verwaltung rechtzeitig planen, wann das Auto benötigt wird.
Welche Maßnahmen kann auch die Verwaltung ergreifen, um den eigenen CO2-Ausstoß zu verringern?
Weber: Wir haben am Projekt „Green IT Town“ der Deutschen Umwelthilfe teilgenommen. Mit einem Austausch von PCs konnten wir bereits 75 Prozent des Energieverbrauchs einsparen. Wir haben aber auch 80 Prozent der Drucker abgeschafft. Nur noch an zwei bis drei Arbeitsplätzen gibt es Einzelplatz-Drucker, da sie durch den Gesetzgeber vorgeschrieben sind. Sonst gibt es Etagendrucker.
Ein Beschluss, der meines Erachtens in Deutschland bislang einmalig ist, ist die Beschränkung der Gemeinde, den Flächenverbrauch auf null zu reduzieren. Das heißt, wir haben festgelegt, den Stand der Bebauung festzuschreiben. Die Flächen, die geplant werden, müssen prozentual diesem Stand angepasst werden. Nach den Demografieerwartungen sind wir eine schrumpfende Kommune, deswegen sind genug geplante Flächen verfügbar. Wenn dennoch etwas Neues geplant werden soll, muss an anderer Stelle etwas zurück geplant werden. Der Flächenverbrauch ist ein wesentliches Thema, das Klimaschutz und Nachhaltigkeit betrifft. Wir versiegeln keine Ackerflächen, keinen Wald oder sonstige Flächen. Wir kommen mit den Flächen aus, die wir besitzen.
Mehrere private und ein öffentliches Nahwärmenetz versorgen Wohnhäuser sowie eine Schule, einen Kindergarten und das Bad im Ortsteil Steyerberg. Im Oktober ist der symbolische Spatenstich für ein Fernwärmenetz erfolgt. Inwiefern kann das Fernwärmenetz im Flecken ein Vorbild sein und der ländlicher Raum im Allgemeinen davon profitieren?
Weber: Die Ausschreibungen laufen zurzeit für 26 km Rohrleitung. Der Baubeginn soll im März stattfinden. Nach der Fertigstellung werden ungefähr 40 Prozent aller Häuser im Ortsteil Steyerberg an das Fernwärmenetz angeschlossen sein. Die Wärme wird durch das ortsansässige Chemieunternehmen Oxxynova erzeugt. Dort wird ein Stoff hergestellt, der nicht unter 150 Grad abkühlen darf. Diese hohe Wärmelast machen wir uns zu Nutze und verwenden die Energie ein zweites Mal, womit der Primärenergiefaktor für diese Wärme Null entspricht. Der CO2-Ausstoß für die Privathaushalte wird damit um 3.500 Tonnen gesenkt.
Schröder: Das Projekt vereint gleich zwei Alleinstellungsmerkmale: Zum einen wird das Wärmenetz durch die eigens gegründete Genossenschaft betrieben. Zum anderen ist die Abwärme aus großen Fabriken im ländlichen Raum eine enorme Chance, aber noch nicht sehr weit verbreitet.
Stichwort ländlicher Raum: Sind Sie im Austausch mit anderen Landkreisen oder Gemeinden, um von deren Erfahrung zu profitieren?
Schröder: Wir beteiligen uns an verschiedenen Modellprojekten, unter anderem zu den Themen städtebauliche Prozesse und energetische Sanierung. Die Vernetzung mit den Masterplan-Kommunen bietet die Möglichkeit, wichtige Player in Deutschland kennenzulernen, Tipps auszutauschen und Erfahrungen zu teilen. Der Austausch ist aber nicht nur auch der kommunalen Ebene essentiell, sondern auch mit den Unternehmen. Im Flecken Steyerberg ist zum Beispiel der Kontakt zu Akteuren aus der Elektromobilität groß. Die Landesvertretung des Bundesverband E-Mobilität sitzt in Steyerberg. Mit diesen starken Partnern vor Ort nehmen wir auch immer wieder Kontakt auf, wenn uns Anfragen von außerhalb erreichen.
Ende Juni 2020 läuft der Förderzeitraum des Masterplans aus. Was macht Sie zuversichtlich, dass die bisherigen Projekte verstetigt werden?
Weber: Die Stelle der Masterplanmanagerin wird nicht länger befristet sein. Für das Erreichen der Pariser Klimaziele müssen wir den Masterplan weiter abarbeiten. Gestern Abend informierten sich 40 von insgesamt 200 im Ortsteil Sarninghausen lebenden Bewohnerinnen und Bewohner über den Ausbau von Photovoltaik. Das Interesse ist nach wie vor hoch. Als eines der nächsten Projekte werden wir ein Solarkataster entwerfen. Zudem soll der Passivhaus-Standard für Neubauten umgesetzt werden. Weiterhin sollen Zisternen in die Häuser eingebaut werden, um ressourcenschonend mit Wasser umzugehen, aber auch Klimaanpassungsmaßnahmen vorzunehmen. Wir werden zukünftig Starkregen-Ereignisse erfahren, weshalb wir Zisternen ausbauen, um das Kanalnetz schon ein wenig zu entlasten.
Welche Erneuerbaren-Projekte werden für Sie zukünftig wichtig?
Weber: Das größte Projekt, was bis zur erhofften Umsetzung noch Zeit in Anspruch nehmen wird, ist ein grüner Industriepark oberhalb des Chemiewerks. Wir streben an, dort die Wasserstoffproduktion im industriellen Maßstab zu testen. Außerdem steht das Thema Bildung hoch auf unserer Agenda. Leider mussten wir aufgrund geringer Schülerzahlen letztes Jahr eine Grundschule schließen. Diese soll nun zu einem Bildungszentrum für Nachhaltigkeit nach den 17 Zielen der UN ausgebaut werden. Wir wollen ein Landschulheim daraus machen, wo junge Menschen lernen, wie sie nachhaltig leben und ihren Lebensraum erhalten: Energie, Ernährung, Landwirtschaft, Demokratie und Frieden sollen thematisiert werden.
Schröder: Das Klimabüro des Fleckens bietet auch regelmäßige Beratungen rund um das Thema energetische Sanierung, Barrierefreiheit und steuerliche Abschreibungsmöglichkeiten an. Wir erwarten einen noch größeren Zulauf durch den Fernwärmeanschluss. Auch das Unternehmen, das das Netz baut, wird vor Ort sein und einen Ansprechpartner zur Verfügung stellen. Es gibt viel zu tun. Wichtig ist zu sehen, wie auch eine kleine Kommune Projekte anstoßen kann, Ideen entwickelt und Akteure begeistert. Soweit es möglich ist, muss dann der Wandel zuerst auf der Verwaltungsebene erfolgen. Darüber hinaus kommt es zu einer Strahlwirkung und gemeinsam mit Informationen und Ideen können Leute zusammengebracht werden und Netzwerke geknüpft werden. Das Wesentliche ist, Leute zu begeistern und mitzunehmen. Ihnen zu sagen, dass es nichts mit Verzicht zu tun hat. Mit Umstellungen bieten wir Mehrwert und steigern die Lebensqualität, das ist das Wichtigste, was wir vermitteln können.
Weber: Unser Ziel ist die Realisierung von Projekten, die man „anfassen“ kann und als Blaupause nutzbar sind. Weniger Papier beschreiben und dafür mehr Umsetzungen oder wie Arnold Schwarzenegger auf der Klimakonferenz 2016 in Wien sagte: „Don‘t talk! Action!“
Weiterer Informationen finden Sie auf dem Internetportal KlimaStark.
Fotos: Flecken Steyerberg
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