"Die Atomkraft ist ein Bremsklotz für die Energiewende"
Die im Zuge der aktuellen politischen Debatte zum Teil geforderte Laufzeitverlängerung der Atomkraftwerke würde verheerende Auswirkungen auf die Erneuerbaren haben, erläutert Carolin Dähling, stellvertretende Bereichsleiterin Politik und Kommunikation von Green Planet Energy (GPE). Eine neue Studie von GPE zeigt, dass allein bei einer potenziellen Laufzeitverlängerung der AKWs in Frankreich 2.000 Gigawattstunden Ökostrom abgeregelt würden.
Frau Dähling, Sie arbeiten seit 2019 bei Green Planet Energy, einem Ökostromanbieter. Seit Herbst 2021 als stellvertretende Bereichsleiterin Politik und Kommunikation. 2022 sollte sich viel um Atomenergie drehen, allerdings vor allem um das Ende dieser in Deutschland. Erst brachte jedoch die Taxonomie-Verordnung die Atomenergie als vermeintlich nachhaltige Energieform wieder an den Verhandlungstisch und nun auch der Angriffskrieg in der Ukraine. Im Zuge der geforderten Energieunabhängigkeit von Russland wurde die Atomkraft und eine Laufzeitverlängerung ins Spiel gebracht. Hätten Sie mit dieser Renaissance der Atomenergie in den energiepolitischen Diskussionen gerechnet, wenn man Sie vergangenes Jahr danach gefragt hätte?
Carolin Dähling: Als Renaissance würde ich es tatsächlich nicht unbedingt bezeichnen. Es gibt natürlich ein paar politische Akteure und auch Lobbyistinnen, die dieses Thema jetzt stark spielen und auch politische Entscheidungsträger, die diese Richtung einschlagen. Es gibt auch sehr viele Akteure und auch Politikerinnen, die eben ganz klar die Risiken und Kosten der Atomkraft sehen. Aber hätten Sie mich vor einem Jahr darauf angesprochen, hätte ich auf jeden Fall nicht erwartet, dass es wieder so einen breiten Raum in der öffentlichen und auch in der politischen Debatte einnimmt. Denn es ist eigentlich offensichtlich, dass mit der Laufzeitverlängerung oder auch mit dem Bau von neuen AKWs schlechte Konsequenzen einhergehen.
Oft wird Atomenergie als probates Mittel im Kampf gegen den menschengemachten Klimawandel angeführt. Wie beurteilen Sie das?
Also die Hoffnung, dass man nach Lösungen sucht, ist natürlich verständlich, aber wir haben die Lösung ja schon und das sind die erneuerbaren Energien: insbesondere die Wind- und PV-Anlagen, die können wir eben auch sehr schnell ausbauen und das ist natürlich auch ein riesengroßes Argument gegen die Atomkraft. Denn wir sehen es überall, wo neue Atomkraftwerke gebaut werden, dass die Kosten- und Zeitpläne um ein Vielfaches gerissen werden. Das bedeutet: Die Atomkraft ist nicht nur viel, viel teurer als die Erneuerbaren, sondern es braucht eben auch relativ lang, bis wir dann letztlich überhaupt auf diese Kapazitäten auch zurückgreifen könnten. Was wir jedoch gerade im Kampf gegen die Klimakrise brauchen, sind natürlich sehr schnelle Lösungen und da sind eben Windenergie- und PV-Anlagen genau das, auf das wir jetzt setzen sollten.
Gleichzeitig zeigt die kürzlich von Ihnen, Green Planet Energy, veröffentlichte Studie, welche negativen Auswirkungen die Atomkraft auch auf die Erneuerbaren hat: Sie untersuchten darin den Einfluss einer Laufzeitverlängerung von AKWs auf die Abregelung Erneuerbarer Energien am Beispiel Frankreichs. Können Sie kurz die zentralen Ergebnisse zusammenfassen?
Unsere Studie hat gezeigt, dass mit dieser Laufzeitverlängerung, wie sie gerade in Frankreich diskutiert wird, gleichzeitig erneuerbare Energien aus dem Stromsystem gedrängt werden. Die Atomkraftwerke laufen sehr statisch, also wie in so einem Block und die Erneuerbaren aber werden sehr fluktuierend eingespeist. Wird zu viel Strom produziert, werden die flexiblen Erneuerbaren im Zweifel abgeregelt, um dann Platz für Atomstrom zu schaffen.
Mit Blick auf eine potenzielle Laufzeitverlängerung der AKWs in Frankreich führt genau das dann im Endeffekt dazu, dass wir insgesamt, so die Berechnungen der Studie, 2000 Gigawattstunden Ökostrom abregeln müssen: in Spanien, Deutschland und Frankreich insgesamt 617.000 Haushalte könnte man mit dieser Menge für ein Jahr mit Strom versorgen. Das zeigt sehr, sehr deutlich, dass Atomkraftwerke und erneuerbare Energien nicht zusammenpassen. Atomkraft ist keine gute Ergänzung zu den Erneuerbaren. Tatsächlich ist sie eher ein Bremsklotz: für die Energiewende und für die Erneuerbaren.
Warum haben Sie in Ihrer Studie auf Frankreich geschaut?
Frankreich ist ein sehr aktuelles Beispiel, um die konkreten Auswirkungen aufzuzeigen. Wir konnten in Frankreich während des Präsidentschaftswahlkampfs eine sehr große Debatte hinsichtlich einer Laufzeitverlängerung sehen. Die Kandidat*innen haben sich quasi mit Vorschlägen, wie man jetzt die Atomkraft wieder voranbringen könnte, übertrumpft.
Können Sie abschätzen, wie groß die Auswirkungen wären, wenn eine solche Laufzeitverlängerung eben nicht nur in Frankreich, sondern auch in anderen europäischen Ländern umgesetzt werden würde?
Das ist tatsächlich schwierig zu beziffern, ohne eine weitere Studie durchzuführen. Grundsätzlich gilt jedoch: Jedes relativ statisch laufende Kraftwerk wird die gleichen Konsequenzen verursachen, nämlich, dass wir Erneuerbare zugunsten konventioneller, statischer Kraftwerke abregeln müssen. Wie hoch genau dieser Effekt wäre, wenn es auch in anderen Ländern zu Laufzeitverlängerungen käme, lässt sich nicht abschätzen. Ein Atomkraftwerk in Finnland zum Beispiel hätte andere Auswirkungen als ein Atomkraftwerk in Frankreich. Wir haben in Europa diese Grenzkuppelstellen, die die europäischen Länder miteinander verbinden und die zwischen den jeweiligen Ländern sehr unterschiedlich sind. Auch die Infrastruktur ist verschieden und dadurch sind es die Auswirkungen auf dem Energiemarkt auch.
Für die geringe Reduzierung ihrer Stromproduktion auf beispielsweise rund 80 Prozent bei älteren AKWs wird neben der Technik auch das Kostenargument angeführt. Von welchen Dimensionen sprechen wir hier und ist die Technik wirklich so unflexibel?
Tatsächlich ist es so, dass diese Kostenstrukturen lediglich den AKW-Betreibern bekannt sind und die halten sich hier sehr bedeckt. Was wir aber sehen können, ist, wie sich die AKWs auf dem Strommarkt verhalten und wir haben ja Zeiten, in denen der Strompreis auch negativ und manchmal auch sehr negativ ist, also beispielsweise bei minus 100 Euro die Megawatt Stunde. Alle, die dann noch Strom einspeisen, müssen 100 Euro zahlen, um das zu tun. Also eigentlich ist es ein super Anreiz, um zu sagen: Stopp ich regele das jetzt runter. Und dennoch sehen wir, dass selbst da noch Atomkraftwerke ins Netz einspeisen. Es muss deutlich teurer als hundert Euro sein, die Atomkraftwerke mit unter 80 Prozent laufen zu lassen. Genaueres kann man dazu tatsächlich nicht sagen. Aber hundert Euro die Megawatt Stunde ist natürlich schon sehr viel.
Aber gilt nicht ein Einspeisevorrang für Wind und Sonne – das heißt, Ökostrom sollte eigentlich Vorfahrt haben… warum funktioniert das offenbar nicht?
Ja eigentlich haben wir diesen wichtigen Einspeisevorrang für Erneuerbare gegenüber den konventionellen. Aber wenn beispielsweise das Netz diese Einspeisung nicht mehr aufnehmen kann, dann wird das runtergeregelt, was für diese Abregelung kurzfristig heruntergefahren werden kann. Im Zweifelsfall und auch aufgrund der Kostenstruktur sind das eben Wind und PV, die dann als erstes runtergeregelt werden. Sie sind einfach hochflexibel, nicht nur in ihrer Erzeugung, sondern auch in dieser Regelbarkeit. Deswegen brauchen wir einfach Kraftwerke, die flexibel genug sind, um die Erneuerbaren auszugleichen, ohne eben dieses Netz zu verstopfen.
Was wäre das zum Beispiel?
Was viel angeführt wird, sind sehr flexible KWK-Anlagen, die dann zum Beispiel später auch mit Wasserstoff betrieben werden könnten. Aber auch hier ist wichtig, dass wir, wenn wir zum Beispiel Wärme aus dem Kraftwerk auskoppeln, auch eine gewisse Flexibilität haben. Der Kraftwerksbetreiber kann, wenn er auch eine Wärmeabnahme hat, nicht sagen: „Der Strompreis ist gerade niedrig, ich fahr runter.“ Unser ganzes Energiesystem und auch unser Strommarkt-System muss darauf ausgelegt sein, dass wir flexible Erzeuger haben.
Das bringt uns auch nochmal zu dem gekoppelten, europäischen Strombinnenmarkt. Ist dieses System eine gute Basis, um vermehrt auf Erneuerbare zu setzen?
Das Verbundnetz in Europa ist total wichtig und gut. Wenn wir 100 Prozent Erneuerbare Energien in Europa haben wollen, ist die Verknüpfung des Energiesystems sehr wertvoll, um Schwankungen innerhalb der europäischen Länder ausgleichen zu können und es erhöht die gesamte Effizienz des europäischen Energiesystems. Aber es sollte klare Spielregeln für konventionelle starre Kraftwerke geben, die dann auch wirklich umgesetzt werden und sie müssen flexibilisiert werden. Das bedeutet eben auch, dass es Auswirkungen auf unser deutsches Energiesystem hat, wenn in Frankreich Atomkraftwerke gebaut werden und das ist aus unserer Sicht eben auch ein sehr guter Anknüpfungspunkt, um auch politisch in die Diskussion einzusteigen: Was wollen wir denn als Europa eigentlich für einen Energiemix haben und brauchen wir wirklich in Europa eine AKW-Laufzeitverlängerung von 50 Jahren?
Nun haben Mitte Mai Dänemark, Deutschland, die Niederlande und Belgien die sogenannte Ejsberg Deklaration unterzeichnet. Bis 2030 wollen sie Offshore-Windkraftwerke mit 65 Gigawatt (GW) Kapazität bauen und bis 2050 sogar insgesamt 150 GW. Eigentlich könnte man mit Blick auf die ganze EU wirklich ein sehr, sehr gutes Erneuerbaren-System aufstellen.
Ja genau, gerade weil wir zum Beispiel die skandinavischen Länder mit ihrem großen Windpotenzial sowie Portugal und Spanien mit sehr guten PV-Zahlen haben, würde sich das sehr gut ausgleichen. Es macht total Sinn, ein gemeinsames europäisches Energiesystem zu haben. Dann leben alle mit den Vorteilen, aber natürlich auch mit den Konsequenzen, wenn daneben Entscheidungen nicht zugunsten der Erneuerbaren ausfallen.
Wo wir wieder bei den AKWs wären. Gibt es denn neben der Abregelung von erneuerbarem Strom noch weitere negative Auswirkungen, die mit einer Laufzeitverlängerung einhergehen?
Wir verlieren nicht nur Strommengen, sondern es entstehen auch Kosten. Wir fördern in Deutschland den Ausbau der Erneuerbaren Energien, weil wir das als wichtig und richtig erachten. Was es ja auch ist. Und gleichzeitig gibt es aber in Europa eine Bewegung, die dazu führt, dass wir Strommengen quasi für die Tonne produzieren. Das führt natürlich zu volkswirtschaftlichen Kosten. Wir könnten durch Erneuerbare Energien also Strom zu sehr geringen laufenden Kosten produzieren, können das aber nicht nutzen. Das kostet und gleichzeitig fördern wir diese Erneuerbaren, ohne dass sie in unserem Strom-System Platz finden.
Unabhängig davon ist, glaube ich, allen inzwischen bekannt, dass mit AKWs noch ganz andere Herausforderungen und Probleme wie zum Beispiel die Endlagerung von Atommüll, die damit zusammenhängenden Transporte und natürlich – auch wenn gern behauptet wird, dass AKWs klimaneutral sind – die CO2-Emissionen der Kraftwerke, die damit einhergehen, dass diese Kraftwerke gebaut und mit Brennstoffelementen versorgt werden müssen. Letztere sind nicht erneuerbar, sie werden im Bergbau abgebaut und natürlich entstehen auch da Emissionen sowie signifikante Umweltauswirkungen.
Insgesamt haben sie für die Umwelt sehr negative Konsequenzen. Und für die Energiewende direkt ist es vor allem dieser Kostenfaktor, der sich sehr negativ auswirkt. Vor allem jetzt, wo wir auch in eine Zeit kommen, in der es wirtschaftlich herausfordernder wird, ist es natürlich noch verrückter, dass wir gegen AKWs quasi mit Förderungen eintreten.
Das Interview führte Anika Schwalbe.
Das Gespräch mit Frau Dähling entstand im Rahmen unserer Atomausstiegskampagne "Erneuerbar statt atomar".
Social Media