"Zu allererst brauchen wir einen verbindlichen Ausbaupfad für Wind- und Solarenergie, der sich an den Pariser Klimaschutzabkommen orientiert"
Das neue Grundsatzprogramm, die Mobilitätswende und Arbeitsplätze in der EE-Branche: Wir sind im Gespärch mit Dr. Julia Verlinden, Mitglied des Deutschen Bundestages und Sprecherin für Energiepolitik der Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Dr. Verlinden, die Grünen haben auf der Bundesdelegiertenkonferenz vom 20. bis 22. November ein neues Grundsatzprogramm beschlossen, das im ersten Kapitel „Lebensgrundlagen schützen“ Klima und Energie thematisiert. Was muss jetzt konkret vor Ort geschehen, um das 1,5 Grad-Ziel des Pariser Klimaabkommens zu erreichen?
Klar ist: Wir brauchen einen viel schnelleren Ausbau von Solar- und Windenergie als in den letzten Jahren. Wir Grüne haben dafür eine Menge an Vorschlägen gemacht. Sie reichen von der verpflichtenden Nutzung der Solarenergie auf neuen Dächern bis hin zu einfacheren Genehmigungen für das Repowering alter Windräder. Doch die Bundesregierung bleibt mit ihrem Entwurf für die EEG-Novelle weiter auf der Bremse. Sie ist gerade dabei, ihre letzte Chance für mehr Klimaschutz in dieser Legislaturperiode zu verspielen.
Die Partei hat sich im neuen Grundsatzprogramm zudem für die dezentrale Energieerzeugung ausgesprochen, die großflächig in Europa stattfinden und die jeweiligen regionalen Stärken nutzen soll. Wie lassen sich die vielfältigen erneuerbaren Technologien in Deutschland zusammenbringen?
Die Vielfalt der Technologien und die Breite der Akteurinnen und Akteure sind unschlagbare Vorteile der Erneuerbaren Energien. Sie machen die Erneuerbaren zur Bürgerenergie par excellence. Und sie ergänzen sich gut, zeitlich und räumlich. Wir brauchen sie alle: die Windenergie vom Meer, die Solarenergie auf Dächern, Balkonen und geeigneten Freiflächen, die Windräder an Land, die Wasserkraft, die Bioenergie, die Erd- und Umweltwärme. Mit intelligent ausgebauten Strom- und Wärmenetzen können wir die unterschiedlichen Energielieferanten gut miteinander verknüpfen. Überschüssigen Ökostrom wollen wir für die Produktion von grünem Wasserstoff einsetzen und so speicherbar machen.
Wie sollte ein grünes Konjunkturprogramm ausgestaltet sein, um Ökologie und Ökonomie in den kommenden Jahren zeitgleich zu fördern und einen neuen Aufschwung nach der Corona-Pandemie (Stichwort: „build back better“) zu begünstigen? Wie würden Sie diesen neuen Aufschwung definieren?
In der grünen Bundestagsfraktion haben wir einen Zukunftspakt erarbeitet und mit einem Investitionsfonds von insgesamt 500 Milliarden Euro versehen, der über zehn Jahre wirken soll. Der Fonds soll mehr Klimaschutz, bessere Bildung, ein leistungsstarkes Gesundheitssystem und die Digitalisierung voranbringen. Entscheidend ist für uns, dass ab sofort alle Programme auf Klimaschutz ausgerichtet sind. Wenn wir jetzt nicht handeln, riskieren wir den permanenten Ausnahmezustand für unsere Kinder.
Trotz der breiten Akzeptanz der Energiewende ist ein stetiger Rückgang der Arbeitsplätze in der deutschen Erneuerbaren-Energien-Branche, besonders der Windenergie, zu verzeichnen. Was würden die Grünen unternehmen, damit dieser Negativtrend gestoppt wird, wenn Sie in der Verantwortung wären?
Die dramatischen Arbeitsplatzverluste in der Erneuerbaren-Branche sind der Bremserlogik der schwarz-roten Energiepolitik geschuldet. Mit viel zu niedrigen Ausbauzielen für Erneuerbare Energien hat diese Regierung den Unternehmen Investitions- und Planungssicherheit verwehrt. Deshalb brauchen wir zu allererst einen verbindlichen Ausbaupfad für Wind- und Solarenergie, der sich an den Pariser Klimaschutzabkommen orientiert. Hinzu kommt die Beseitigung von Hindernissen wie etwa die Belastung des Eigenstromverbrauchs mit Abgaben oder komplizierte Bürokratie für Mieterstrom.
Welche Rolle fällt dabei der Erneuerbaren-Energien-Branche zu?
Sobald die Branche verlässliche und klimagerechte Ausbaupfade von der Politik bekommt, erwarten wir, dass die Unternehmen in Personalaufbau und Produktionskapazitäten investieren. Dazu gehören auch Weiterbildungs- und Qualifikationsprogramme für Quereinsteiger*innen. Gut bezahlte und sichere Arbeitsplätze bei den Erneuerbaren können attraktive Anziehungspunkte werden für Menschen, die bisher in Unternehmen der alten fossilen Welt gearbeitet haben, beispielsweise in der Autoindustrie. So kann die Branche der Erneuerbaren aktiv zur Transformation der Wirtschaft beitragen.
Für die Umsetzung der Mobilitätswende sind viele Maßnahmen nötig, etwa die Vermeidung des Auto- und Flugverkehrs, bessere Bedingungen für den Radverkehr und ein verstärkter Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs. Doch Autos werden vorerst nicht von der Straße verschwinden. Wie und mit welchen Übergangstechnologien kann der Individualverkehr mittel- und langfristig nachhaltig gestaltet werden?
Mobilität ist mehr als Verkehr. Deshalb muss das Ziel in den Vordergrund rücken, dass Menschen sicher, bequem und umweltverträglich mobil sein können. Insbesondere für die Städte bedeutet das eine entschlossene Umverteilung von öffentlichem Raum zugunsten von Bus, Bahn, Rad und Fußverkehr – mit mehr Platz für Grün und Erholung. In ländlichen Gegenden können die Vernetzung von elektrisch betriebenen Fahrzeugen und eine bessere Erschließung mit öffentlichen Verkehrsmitteln helfen, Komfort und Klimaschutz zu verbinden und Mobilität zu gewährleisten.
Die Bundesregierung hat sich das Ziel gesetzt, dass 65 Prozent des Stroms im Jahr 2030 aus erneuerbaren Quellen kommen soll. Wo müssen die Erneuerbaren ihrer Meinung nach im Jahr 2030 sein?
Energieeinsparung und mehr Energieeffizienz sind die Voraussetzung dafür, dass wir möglichst schnell vollständig auf Erneuerbare Energien umsteigen können. Aller Voraussicht nach wird der Stromverbrauch aber auch bei guten Effizienzgewinnen steigen, da immer mehr Anwendungen statt mit Erdgas oder Öl künftig mit Ökostrom betrieben werden – beispielsweise Elektrofahrzeuge oder Wärmepumpen. Wir wollen die Ökostrommenge in Deutschland bis 2030 verdoppeln. Dann würde unser heutiger Stromverbrauch vollständig aus Erneuerbaren gedeckt.
Welche Persönlichkeiten, Themen oder Ereignisse inspirierte Sie zu Ihrem Berufsweg und wie kam es zu Ihrem Interesse an Umwelt und Energie?
Schon als Jugendliche haben mich Umweltfragen beschäftigt und ich schrieb dazu in der Schülerzeitung. Aber ich wollte nicht nur auf ökologische Probleme hinweisen, sondern auch etwas dagegen tun. Zum Glück traf ich auf Gleichgesinnte in den Jugendorganisationen von Greenpeace, NABU und BUND. Gemeinsam dachten wir uns Aktionen aus, organisierten Fahrraddemos für die Energiewende. Als 1998 die Grünen erstmals in die Bundesregierung eintraten, herrschte Aufbruchstimmung. Davon ließ ich mich anstecken und gründete mit Freund*innen die erste grüne Hochschulgruppe an der Lüneburger Universität. Ich war neun Jahre in der Kommunalpolitik aktiv und arbeitete schließlich als Umweltwissenschaftlerin mehrere Jahre im Umweltbundesamt. 2013 wurde ich zum ersten Mal in den Bundestag gewählt, um hier für die Energiewende und Klimagerechtigkeit zu kämpfen.
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