"Gute Beteiligung beschleunigt die Umsetzung von Projekten und verbessert das Zusammenleben der Menschen"
Die Energiewende verändert als gesamtgesellschaftlicher Prozess die gewohnte Umwelt in vielen Lebensbereichen. Eine umfassende Beteiligung kann für Akzeptanz und die Berücksichtigung diverser Lebensumstände sorgen. Das Projekt INTEGER (Ebenen-INTEGrative Partizipation für die EneRgiewende) verfolgt das Ziel der Evaluation und Konzeption integrativer Beteiligungsformate. Im Fokus steht dabei die Zielgruppe der jungen Erwachsenen im Alter von ca. 18 bis 25 Jahren. Charlotte Harzer, Teil der Arbeitsgruppe Politik bei Klimamitbestimmung e.V., ist INTEGER-Praxisbeirätin. Die unabhängige und überparteiliche Organisation bringt einen großen Erfahrungsschatz und fundiertes Wissen zu Bürger*innenräten sowie ein starkes Netzwerk in Politik, Praxis und Wissenschaft in das Projekt ein. Im Interview spricht sie darüber, wie neue Partizipationsmöglichkeiten die politische Diskussion bereichern und somit zu zukunftsweisenden Entscheidungen beitragen können.
Warum ist die Beteiligung möglichst vieler Bürger*innen für eine gelingende Energiewende entscheidend?
Die Energiewende bietet tolle Chancen für eine lebenswertere und enkeltaugliche Zukunft, doch kurzfristig bedeutet sie auch Anstrengungen und Veränderungen im eigenen Leben. Und wer mag schon Anstrengung – vor allem, wenn sie von irgendwem anders verordnet wird? Wenn man dann noch das Gefühl hat, dass andere von den Veränderungen profitieren, während man selbst nur benachteiligt ist, dann schlägt das schnell in Wut der Resignation um. Beides können wir in unserer Demokratie nicht wollen. Einerseits führt das dazu, dass sich Widerstand gegen konkrete Projekte der Energiewende bildet, sodass diese sich in die Länge ziehen oder gar nie beendet werden. Andererseits verlieren Menschen das Vertrauen in unsere demokratischen Prozesse und Institutionen. Eine ernsthafte und frühzeitige Beteiligung kann dem entgegenwirken und sogar zu positiven Effekten führen. Es gilt anzuerkennen, dass es Interessen- und Verteilungskonflikte gibt und dass Lösungen gefunden werden müssen, von denen Betroffene vor Ort auch etwas haben. Wenn Menschen das Gefühl haben, wirklich gehört und ernst genommen zu werden, dann sind sie viel eher bereit, gemeinsam nach Lösungen zu suchen und Kompromisse einzugehen. Gute Bürger*innenbeteiligung ist sehr aufwendig und kostet Zeit. Doch am Ende zeigt sich oft, dass gute Beteiligung die Umsetzung von Projekten eher beschleunigt und das Zusammenleben der Menschen verbessert.
Klimamitbestimmung e.V. setzt sich für die Einbindung politisch einberufener Bürger*innenräte in die sozial-ökologische Transformation ein. Wie sieht dieses Format konkret aus und welche Chancen und Vorteile bietet es der politischen Partizipation in Klimafragen?
Ein Bürger*innenrat zeichnet sich dadurch aus, dass die Teilnehmenden zufällig ausgeloste Bürger*innen sind. Bei vielen anderen Verfahren beteiligen sich häufig vor allem diejenigen, die besonders empört sind und das Selbstbewusstsein haben, ihre Meinung zu äußern. Ein Bürger*innenrat besteht hingegen aus Menschen, die die Bevölkerung repräsentativer abbilden. Das bedeutet, dass durch eine zweistufige Zufallsauswahl auch auf soziodemografische Merkmale wie zum Beispiel Alter, Geschlecht, Wohnort, Migrationshintergrund oder Bildungsgrad geachtet wird. Die ausgelosten Personen haben dann die Möglichkeit, in einen Austausch mit Menschen zu kommen, mit denen sie normalerweise nie reden. Hierbei ist das Besondere, dass die Bürger*innen Inputs und Vorträge zu dem jeweiligen Thema bekommen. Das führt einerseits dazu, dass die Teilnehmenden über die Problemlage informiert sind und andererseits, dass alle mit einem ähnlichen Wissensstand in den Austausch gehen.
Wichtig für einen gelungenen Bürger*innenrat ist natürlich auch das Thema. Es soll dabei am besten um transformative Themen gehen, in denen wir momentan nicht so schnell vorankommen, wie wir eigentlich müssten. Bei einem Bürger*innenrat haben die Teilnehmenden die Chance, ihre Sichtweise mitzuteilen. Gleichzeitig können sie andere Perspektiven kennenlernen. Und genau hier ist es wichtig, dass Bürger*innenräte repräsentativ gestaltet sind. Im besten Fall werden so alle Sichtweisen in die Diskussion eingebracht. Eine alleinerziehende Mutter in der Stadt steht wahrscheinlich vor anderen Hindernissen als ein auf dem Land lebendes Pärchen. Dennoch sind beide Perspektiven entscheidend, um eine sozial-ökologische Transformation voranzutreiben. Viele Teilnehmende betonen, wie wertvoll der Austausch für sie war und das Gespräch mit Menschen, mit denen sie sonst nicht in Kontakt gekommen wären. Durch diesen offenen und direkten Austausch können Barrieren abgebaut und gemeinsam Handlungsempfehlungen für die Politik erarbeitet werden, welche am Ende des Bürger*innenrates an die Politik übergeben werden. Hierbei ist natürlich besonders wichtig, dass die Ergebnisse von der Politik ernst genommen werden. Die Ergebnisse müssten auch vom Parlament diskutiert und dazu Stellung bezogen werden, damit die Handlungsempfehlungen ihren Sinn verfolgen. Dazu braucht es viele Überlegungen und Zugeständnisse seitens der Politik.
Welche Erkenntnisse sind aus bisher abgeschlossenen Räten für die Gestaltung der Mobilitäts- und Energiewende abzuleiten?
In 2022 hat in Berlin der sogenannte Klimabürger*innenrat stattgefunden, welches der erste dieser Art auf Landesebene war. Themenschwerpunkte waren Mobilität, Gebäude und Energie. Hier hat sich gezeigt, dass die gelosten Bürger*innen zum Teil deutlich weiter gehen mit ihren Empfehlungen als die Politik. Neben konkreten Empfehlungen, wie zum Beispiel einem Verbot von Gas- und Ölheizungen bis 2035 oder energetische Sanierungspflichten, war dem Bürger*innenrat auch wichtig, dass die Bevölkerung gut beteiligt wird und dass die Maßnahmen sozial gerecht umgesetzt werden. Hierzu zählten zum Beispiel die Reduktion bürokratischer Hürden bei der finanziellen Beteiligung der Bevölkerung am Solarausbau, die Förderung von Bürger*innenenergieanlagen und der Schutz vor Mieterhöhungen.
Das Projekt INTEGER zielt auf Mitsprachemöglichkeiten junger Menschen bei der Gestaltung des Energiesystems der Zukunft ab. Warum ist die Stimme dieser Generation so wichtig für die gesamte Gesellschaft?
Die junge Generation muss später die Entscheidungen von heute tragen. Deshalb sollten wir dafür sorgen, dass die Entscheidungen, die wir treffen, richtig, gut, nachhaltig und sinnvoll sind. Das ist eine Frage der Generationengerechtigkeit, denn besonders viel Zeit zum Handeln haben wir nicht mehr. Oft haben leider genau die Menschen wenig politisches Mitspracherecht, die später die Folgen der heutigen Entscheidungen tragen, da sie noch nicht die Möglichkeit haben, zu wählen. Das ist eine Schwäche unserer Demokratie und wir müssen darüber nachdenken, was wir dagegen tun können.
Können geloste Bürger*innenräte, die eine diverse Altersstruktur aufweisen, passende Entscheidungen für eine bestimmte Altersgruppe treffen?
Auf jeden Fall. Hier kommt es jedoch auf die Formate und Methoden der Beteiligung an. Wichtig ist, dass die Teilnehmenden sich Zeit nehmen, darüber nachzudenken und darüber zu diskutieren, was heutige Entscheidungen für Menschen in der Zukunft bedeuten. Wahrscheinlich hilft es sehr, wenn auch Kinder bei solchen Formaten dabei sind.
Welche politischen Maßnahmen und Anstrengungen braucht es, um mehr Bürger*innenräte zu installieren und was kann das Projekt INTEGER hierzu beitragen?
Es hilft natürlich, wenn das Konzept Bürger*innenräte bekannter wird. Zusätzlich ist es wichtig, dass wir die Bürger*innenräte, die es bereits gibt, ernst nehmen. Das gilt ganz besonders für Entscheidungsträger*innen. Das bedeutet, dass definiert ist, wie mit den Entscheidungen umgegangen wird und wie sie am besten in den politischen Prozess einfließen können. Dazu gehört zum Beispiel, dass die Ministerien, die für die Umsetzung wichtig werden, auch schon während der Prozesse mit eingebunden werden. Auf der anderen Seite könnten zum Beispiel Diskussionen, die in diesen Räten stattfinden, in den öffentlichen Diskurs getragen werden, damit gesamtgesellschaftlich von diesem Austausch profitiert werden kann. Bei Fragen zur Energiewende geht es ja zum Beispiel um Probleme und Hürden, die deutschlandweit Menschen betreffen.
Das Projekt INTEGER kann dazu beitragen und Bürger*innenräte mit in das öffentliche Interesse rücken. Bei den geplanten und zu erarbeitenden Beteiligungskonzepten des Projektes könnten Ansätze von Bürger*innenräten einfließen, um von Stärken dieser Art der Beteiligung zu profitieren. Zusätzlich ist es immer wichtig, Bürger*innenräte zu evaluieren, um sie daraufhin weiterzuentwickeln und dabei gerechter und effektiver gestalten zu können. Es gibt in Deutschland sehr viele zufallsbasierte Beteiligungsverfahren auf kommunaler Ebene, doch auf Länder- und Bundesebene haben wir weniger Erfahrung. Daher lernen wir momentan viel von internationalen und europäischen Beispielen.
Was kann jede*r Einzelne tun, die oder der nicht in Bürger*innenräte berufen wird, um sich aktiv in Transformationsprozesse einzubringen und die Energiewende mitzugestalten?
Das hängt natürlich immer auch von der eigenen Lebenssituation ab. Man kann Teil lokaler Initiativen und Projekte für Erneuerbare Energien werden oder diese ins Leben rufen. Wer gerade am Anfang der beruflichen Karriere steht oder etwas Neues anfangen möchte, sollte sich ernsthaft überlegen, ob nicht auch ein handwerklicher Beruf infrage kommt. Wenige Jobs tragen so sehr zum Klimaschutz bei wie die Beratung zu und Installation von Wärmepumpen, PV oder Häuserdämmung. Ein weiterer großer Hebel ist es, politisch aktiv zu werden. Natürlich kann man sich auch für Bürger*innenräte einsetzen und zum Beispiel bei Klimamitbestimmung e.V. aktiv werden.
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