Bürger*innen in der Energiewende: Handlungsmacht statt Ohnmacht
Mit Dr. Arwen Colell haben wir darüber gesprochen, warum eine starke Rumpfmuskulatur und eine gute gemeinsame Erzählung entscheidend für das Gelingen der Energiewende sind.
Dr. Colell ist Sozialwissenschaftlerin, Mitbegründerin einer Berliner Energiegenossenschaft, Geschäftsführerin des Start-Ups decarbon1ze und bezeichnet sich selbst als „social innovations enthusiast“.
Liebe Frau Dr. Colell, Sie haben über Bürger*innenenergie promoviert und sind Mitbegründerin der Genossenschaft BürgerEnergie Berlin. Was ist Bürger*innenenergie und was kann sie?
In meiner Forschung habe ich mit bürgereigenen Energieprojekten in Deutschland, Dänemark und Schottland zusammengearbeitet, die vollständig oder mehrheitlich in bürgerschaftlichem Besitz sind und in denen Bürger*innen wesentliche Entscheidungsträger*innen sind. Bürgerenergieprojekte sind in vielen verschiedenen Bereichen der Energiewende aktiv: beim Aufbau von erneuerbaren Erzeugungsanlagen, im Grünstromvertrieb, in der erneuerbaren Wärmeversorgung, im Stromverteilnetzbetrieb, bei der Verbesserung von Energieeffizienz und der Verbrauchsreduktion oder in der Energieberatung. Bürger*innenenergie schafft eine neue, andere Verbindung zwischen dem Energiesystem und der Gemeinschaft. Sie bietet konkrete Handlungsoptionen für Einzelne an und gleichzeitig schafft sie einen Rahmen, in dem Menschen gemeinsam erreichen können, was ihnen allein zu kompliziert oder zu groß erscheint. Kurzum: Die Bürger*innenenergie macht die Energiewende handhabbar und zu einer persönlichen Geschichte, die zu mir passt.
Was motiviert Bürger*innen, sich an Energieprojekten zu beteiligen, und welche Formen des Engagements sind am häufigsten?
In allen Projekten, mit denen ich gearbeitet habe, teilen die Menschen die gleiche Motivation. Es geht um ihre Gemeinschaft vor Ort, den Erhalt oder Schutz ihrer Gemeinde zum Beispiel oder der Umwelt vor der Haustür. Es geht darum, sich mit den Zielen der Organisation oder des Projekts identifizieren zu können und den eigenen Beitrag zu spüren. Es geht um Verantwortung, manchmal ganz konkret vor Ort, manchmal für die eigenen Kinder und Enkel und manchmal auch für den eigenen Anteil am Klimaschutz. Und es geht darum, Handlungsmacht zu spüren und den Herausforderungen, die man sieht, nicht ohnmächtig gegenüberzustehen. Die Sprache der Wissenschaft ist überwiegend Englisch und da ergibt das eine griffige Formel: Community, Ownership, Responsibility, Empowerment oder CORE. Das kennen wir alle aus dem Sport: Ohne eine starke Rumpfmuskulatur, unsere “core”, gelingt es nicht.
Bürgerschaftliches Engagement für die Energiewende kann ganz unterschiedlich aussehen, da gibt es mit dem “Energiewende-o-mat" vom BündnisBürgerenergie zum Beispiel ein spannendes Tool, um herauszufinden, was für mich das Richtige wäre. Ich forsche und arbeite mit Projekten, in denen Menschen direkt selbst als Eigentümer*innen und Handelnde aktiv sind. Das können Genossenschaften sein, Vereine, aber auch ganz andere Rechtsformen.
Handlungsmacht statt Ohnmacht: Welche Rolle spielen hier soziale Innovationen?
Ich bin Politikwissenschaftlerin, das heißt ich interessiere mich besonders dafür, wer auf welcher Grundlage für wen Entscheidungen treffen darf und wie das passiert. Soziale Innovationen sind also nicht nur gemeinsame (soziale), neue oder neu verknüpfte (innovative) Handlungen oder Strukturen. Eine soziale Innovation verändert auch die Machtverhältnisse.
Die Energiewende ist ein riesiges, gesamtgesellschaftliches Projekt, das fast alle unsere Lebensbereiche im Alltag berührt und den Menschen viele neue und oft auch komplizierte Entscheidungen abverlangt. Es ist leicht, sich davon überwältigt oder entmutigt zu fühlen. Gleichzeitig wird es uns ohne die Initiative von Einzelnen und Gemeinschaften nicht schnell genug gelingen, diese Transformation zu bewältigen. Soziale Innovationen verteilen die Handlungsmacht neu, damit können mehr Menschen selbst aktiv werden.
Wie können soziale und technologische Innovationen zusammen die Energiewende beschleunigen?
Wir denken gerade in Deutschland, dem Land der Ingenieur*innen, bei der Energiewende schnell und gern an technische Innovationen: Neue Möglichkeiten der Energiegewinnung, sparsamere Maschinen, Glühbirnen oder Duschköpfe, Elektroautos. Wir gewinnen damit auch großartige neue Optionen. Dieser Fokus ist aber aus zwei Gründen gefährlich: Erstens legt es nahe, dass wir unsere Herausforderungen durch neue Gadgets lösen können und sich im Alltag sonst nichts ändert. Das wird leider nicht reichen. Und zweitens haben wir damit über Jahrzehnte die immer gleiche Geschichte wiederholt: Expert*innen entwickeln eine technische Lösung und die Gesellschaft muss sie dann nur noch akzeptieren. Diese passive Haltung ist langsam und Unzufriedenheit ist vorprogrammiert, wenn ich Veränderungen in meinem Alltag nicht selbst mitgestalten darf.
Die Verbindung von sozialen und technischen Innovationen bietet zwei wichtige Chancen. Erstens entwickeln sich technische Lösungen, die besser zu den geteilten Werten und Prioritäten der Gemeinschaft passen. Und zweitens gewinne ich Handlungsmacht und das bringt mehr Spaß und Tempo in die Umsetzung. Was ich selbst mitgestalte, bekämpfe ich nicht, ich muss dafür auch weniger oder keine Ausgleichszahlungen bekommen und ich erlebe das Handeln in Gemeinschaft. Da entstehen richtige kleine Demokratiereallabore, da gewinnen wir nicht nur für die Energiewende wichtige Räume.
Welchen Einfluss haben neue Technologien und Digitalisierung auf die gesellschaftliche Teilhabe an der Energiewende?
Die Transparenz haben wir schon angesprochen. Teilhabe können wir dabei vielschichtig verstehen. Für mich geht es hier einerseits um Möglichkeiten der Mitbestimmung und der Mitgestaltung. Digitalisierung kann schneller mehr Mitsprache ermöglichen. Die wirtschaftliche Teilhabe ist aber ebenso wesentlich: Gemeinsames Investieren kann mit digitalen Plattformen einfacher werden. Digitale Plattformen erlauben aber auch neue Dienstleistungen, die mehr Teilhabemöglichkeiten bieten. Ein Beispiel dafür sind dynamische Stromtarife, da spielt einerseits Datentransparenz eine Rolle – also das Wissen darum, wie Strompreise sich in Zeiten von hohem oder niedrigem Grünstromdargebot verändern, aber auch das Wissen über die verfügbare Netzkapazität und perspektivisch vielleicht auch damit verbundene dynamische Netzentgelte – andererseits aber auch die Leistungsfähigkeit der Marktkommunikationsprozesse in der Energiewirtschaft. Das sind digitale Prozesse, die im Hintergrund der Energiedienstleistungen, die wir im Alltag nutzen, ablaufen und von denen die meisten Menschen wenig wissen. Ihre Leistungsfähigkeit ist für mehr Teilhabe aber extrem wichtig, zum Beispiel dafür, dass Menschen Tarife abschließen können, die das Elektroauto als flexiblen Speicher bewirtschaften.
Was bedeutet Teilhabe eigentlich?
Für mich gehören gesellschaftliche und wirtschaftliche Teilhabe eng zusammen. Gemeinsam ist beiden Dimensionen, dass es um Möglichkeiten der aktiven Mitgestaltung geht. Spannend an der Energiewende finde ich vor allem, dass sie so vielfältige Teilhabemöglichkeiten anbietet: von der Auswahl eines Ökostromtarifs, der gezielt die Ausweitung der erneuerbaren Erzeugung fördert, bis zur Investition in eigene Erzeugungsanlagen, aber auch von der einmaligen Teilnahme an einem öffentlichen Konsultationsverfahren zur Flächenplanung bis zur Mitgliedschaft in Bürgerenergiegesellschaften. Die Energiewende wird viel zu oft noch als die große, von Expert*innen gestaltete Transformation dargestellt. Dabei können wir alle in unterschiedlichen Rollen daran mitwirken.
Welche politischen Maßnahmen halten Sie für notwendig, um eine breitere gesellschaftliche Teilhabe an der Energiewende zu fördern?
Eine ganz zentrale Teilhabebarriere auf vielen Ebenen ist die Bürokratie. Es ist oft wahnsinnig kompliziert, selbst aktiv zu werden. Nehmen Sie nur den Bau von Solaranlagen auf Mehrfamilienhausdächern. Wenn das Haus nur einen Netzanschluss hat, sind mit der Einführung der gemeinschaftlichen Gebäudeversorgung endlich große Erleichterungen gekommen. Hat das gleiche Haus zwei Treppenaufgänge und zwei Netzanschlüsse, oft eine historisch gewachsene Netzstruktur, ist es schon wieder unmöglich, den Strom vom gemeinsamen Dach einfach zu teilen. Ich arbeite in der Energiewirtschaft und verstehe die Schwierigkeiten. Mieter*innen sehen nur, dass etwas, was sie für selbstverständlich gehalten hätten, nicht funktioniert. Wir brauchen dringend die Reduktion bürokratischer Strukturen und Prozesse, und wir müssen die Digitalisierung als Instrument der Vereinfachung und Beschleunigung nutzen. Wir brauchen aber auch auf allen Ebenen das Verständnis, dass dezentrale Lösungen zwar bisweilen im Verhältnis zum Gesamtsystem kleine Energiemengen bewegen, aber in der Summe dazu beitragen, Menschen zu aktivieren und mit ihnen eine gemeinsame Erzählung aufzubauen, die uns durch diese Transformation tragen kann.
Wie kann sichergestellt werden, dass Mitgestaltung bei der Energiewende in allen Bevölkerungsschichten möglich ist und niemand ausgeschlossen wird?
Ein guter erster Schritt ist es, dieses doppelte Verständnis von Teilhabe als gesellschaftliche und wirtschaftliche Mitgestaltung konsequent zu verankern, denn es öffnet einen breiten Fächer an Teilhabeoptionen, die für unterschiedliche Lebensrealitäten passen können. Auch bürgereigene Energieprojekte haben hier übrigens noch Entwicklungspotential. Oft treffe ich in den Projekten vor allem George Clooney-Männer über 50 mit überdurchschnittlichem Einkommen und überdurchschnittlichem Bildungsniveau, oft mit technischem Berufshintergrund. Hier kann gerade die Verknüpfung von technischen und sozialen Innovationen in der gemeinsamen Arbeit eine Brücke schlagen, um auch andere Menschen anzusprechen.
Gleichzeitig müssen wir uns ehrlich machen: Nicht jede und jeder muss die Energiewende selbst vorantreiben. Es soll ja Menschen geben, die denken gar nicht den ganzen Tag über Strom nach. Eine gut verankerte gemeinsame Erzählung, und vielfältige Möglichkeiten diese Erzählung mitzugestalten, geben aber allen das Gefühl: Ich könnte sie mitgestalten, wenn ich wollte. Und wenn es mir wichtig wäre, würde zum Beispiel auch mein Widerspruch oder meine Sorge angehört und ernst genommen werden. Erfolgreiche bürgerschaftlich getragene Transformationsprozesse machen genau das vor: Eine ganz starke Rumpfmuskulatur – Community, Ownership, Responsibility, Empowerment – aber auch Raum für Widerspruch und ein bisschen Gleichgültigkeit in der Gemeinschaft, in dem Vertrauen darauf, dass der gemeinsame Prozess mich auch dann mitbedenkt, wenn ich nicht überall aktiv bin. Dann tragen die Menschen die Veränderung gern gemeinsam.
Pressekontakt:
Agentur für Erneuerbare Energien e.V.
Christin Weber
Tel: 030 200535 47
Mail: c.weber@unendlich-viel-energie.de
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