"Es ist 5 Sekunden vor 12" - Unser Energiesystem weltweit

Prof. Dr. Breyer denkt und forscht rund um ganzheitliche Ansätze des Energiesystems – das Schlüsselwort ist Sektorenkopplung. Im Interview macht er mit Daten und Fakten deutlich, was es für eine Welt mit 100 Prozent Erneuerbaren Energien braucht.

Sehr geehrter Herr Prof. Dr. Breyer in Zeiten von Fridays for Future, Ende Gelände und der großen Mobilisierung im letzten Jahr für Erhalt des Hambacher Waldes haben Sie nun Ihre neue Studie „Global Energysystem based on 100% Renewable Energy“ veröffentlicht. Was braucht es noch neben den vielen neuen sozialen Bewegungen für die gesellschaftliche Transformation? Was braucht die Energiewende? Wie beurteilen Sie die aktuelle Situation in Deutschland?

Der gesellschaftliche Wille, das existenzielle Problem unserer Zeit, den menschengemachten Klimawandel, nun gründlich anzupacken, ist stark ausgeprägt. Leider findet sich im politischen Betrieb keine Resonanz, so dass selbst die zu niedrigen Klimaziele in Deutschland noch verfehlt werden. Die junge Generation hat erkannt, dass sie die gesellschaftliche Debatte nicht nur verändern, sondern auch massiven Einfluss auf Wahlen nehmen kann und das generationenübergreifend in der Familie, in der öffentlichen Debatte und nicht zuletzt via Social Media.

Diese Erkenntnis bedarf nun einer dauerhaften politischen Verankerung, so dass Wahlen nur gewonnen werden können, wenn klare ambitionierte Ziele zum Klimaschutz vorgestellt werden. Eine Wiederwahl ist nur möglich, wenn in der Zwischenzeit eine konkrete und wirksame Umsetzung der Klimaschutzziele erfolgte. Dann kann der Rollback der vergangenen 10 bis 15 Jahre gestoppt werden, die Verweigerer können in den Ruhestand geschickt werden und eine tatkräftige neue Generation von verantwortungsbewussten Entscheidungsträgern kann nun endlich die längst überfälligen Schritte zur Systemtransformation vornehmen – vor allem in der Politik, aber auch in Wirtschaft, Medien und Wissenschaft.

In der Studie wird auch der multisektorale Ansatz der Energiewende präsentiert, das heißt Strom, Wärme und Verkehr werden gleichermaßen betrachtet. Die Elektrifizierung aller Sektoren soll die Lösung für einen Primärenergieanteil von 90 Prozent Erneuerbare Energien bis 2050 sein. Wie soll das in Deutschland umgesetzt werden und mit welchen Technologien?

Es reift die Erkenntnis, dass sehr günstige erneuerbare Elektrizität den entscheidenden Schlüssel zu einer sehr hohen Effizienz im gesamten Energiesystem darstellt. Das aktuelle Energiesystem ist durch multiple Ineffizienzen gekennzeichnet bei thermischen Kraftwerken, bei Wärmebereitstellung und im Verkehrssektor. Dies ist eine Folge der geringen Wirkungsgrade bei Verbrennungsprozessen. Kohlekraftwerke haben meist weniger als 40% Wirkungsgrad, Gasbrenner bleiben unter 100% Wirkungsgrad und Autos schaffen über das Jahr kaum 20% Wirkungsgrad. Im Vergleich dazu kann die bereitgestellte Elektrizität von Photovoltaik, Windkraft und Wasserkraft verlustarm übertragen werden und mit hohen Wirkungsgraden von 300-400% in Wärmepumpen in Raumwärme umgewandelt werden durch Entnahme von Wärme aus der Umgebung. Und batterieelektrische Autos kommen auf ca. 70% systemischen Wirkungsgrad. Diese enormen Effizienzgewinne gepaart mit niedrigen Stromgestehungskosten von Photovoltaik und Windkraft sind die primären ökonomischen Treiber einer nachhaltigen Energiewende.

Die wesentlichen Technologien sind Photovoltaik, Windkraft, Batterien, Wärmepumpen, batterieelektrische Fahrzeuge, Elektrolyseure und Power-to-X Synthesetechnologien, damit auch synthetische Treibstoffe für die Schifffahrt und Luftfahrt und synthetische Chemikalien für die Industrie bereitgestellt werden können. Umgesetzt werden muss dies mit klaren politischen Zielen, die effizient gesteuert und eingehalten werden.

Sie erwähnen die Elektrolyseure – Stichwort Windenergie und Sektorenkopplung – Wie kann der Überschussstrom von Windenergie heutzutage schon genutzt werden im Wärme- und Verkehrsbereich?

Es gibt vor allem Überschussstrom, weil die konventionellen Kraftwerke entweder nicht flexibel betrieben werden können oder die Betreiber dies verweigern. Letzteres muss gesetzgeberisch unterbunden werden. Batteriekraftwerke können beispielsweise die Frequenzregelung in besserer Qualität und günstiger bereitstellen. Positiver Nebeneffekt ist, dass viele sogenannte Must-run-Kohle- und Gaskraftwerke nicht mehr am Netz bleiben müssen, wenn erneuerbare Elektrizität in hohen Mengen zur Verfügung steht. Es wird aber dennoch an sehr windreichen und auch sehr sonnenreichen Tagen Phasen geben, in denen die Erzeugung den primären Bedarf übersteigt. In einem sektorengekoppelten Energiesystem ist das ein Regelfall, weil beispielsweise mit Power-to-Heat günstig und effizient Wärme in Nah- und Fernwärmenetzen bereitgestellt werden kann, die auch eine gewisse Zeit gespeichert werden kann.

Im Verkehrssektor werden batterieelektrische Fahrzeuge zumeist vollgeladen, trotz einer Reichweite von 300 bis 500 Kilometern und oft nur 30 Kilometer täglichem Fahrbedarf. In etwas weiterer Zukunft werden in solchen vermeintlichen Überschussphasen die Elektrolyseure auf Volllast betrieben, um günstig und effizient Wasserstoff zu produzieren, der dann direkt oder indirekt in weiteren Syntheseschritten in der Schifffahrt, Luftfahrt oder Chemieindustrie genutzt wird.

Wenn ein paar Prozentpunkte von sehr günstigem Wind- oder Photovoltaikstrom nicht genutzt werden können, ist dies kein größeres Problem, sondern Teil einer kostenoptimierten Lösung, weil jegliche andere Maßnahme womöglich mehr kosten würden.

Und inwiefern spielt hier die auslaufende Förderung der EEG-Umlage eine Rolle für die Sektorenkopplung im Windenergiebereich?

Es werden sich unterschiedliche Vermarktungskonzepte herausbilden. Die Grenzkosten von abgeschriebenen Windkraft- und insbesondere Photovoltaikanlagen sind sehr gering, so dass neue Energielösungen konzipiert werden können. Wichtig ist der privilegierte Netzzugang. Aggregatoren werden diese günstige Elektrizität kontrahieren und veredeln. Private Photovoltaikanlagenbetreiber werden häufig in Batterien investieren, um mehr ihres eigenen und sehr günstigen Stromes nutzen zu können. Dies kann zu mehr Wärmepumpen und mehr Elektromobilität führen. Hierzu haben wir kürzlich eine detaillierte Arbeit zum PV-Eigenverbrauch veröffentlicht.

Betrachten wir den Sektor Verkehr genauer, wird schnell deutlich, dass die Elektrifizierung von Verkehr eine Herausforderung ist. Auch unsere Grafiken zeigen, dass der Anteil Erneuerbarer Energien am Verkehr erst bei 5,6 Prozent am Gesamtenergieverbrauch liegen. In ihrer Studie wird die Installation von Speichern als eine der Herausforderungen genannt. Worin besteht diese genau? Was sind andere Hindernisse?

Wichtig ist, dass die Preise mit einer „Kostenwahrheit“ eine Lenkungswirkung entfalten können. Warum sind die CO2-Kosten, nämlich bis zu 180 Euro pro Tonne CO2 nicht in den Spritpreisen enthalten? Warum nicht im gesamten Mobilitätssektor? Warum müssen die Folgen der Luftverschmutzung von den Beitragszahlern im Gesundheitssystem aufgebracht werden? Das Verursacherprinzip besagt eindeutig, dass der Verursacher die Folgen zu begleichen hat. Das würde die Gesundheitsbeiträge reduzieren und die Kosten von gesundheitsschädlichen Treibstoffen und Technologien in die Höhe treiben, die dann über eine entsprechende Umlage die Kosten des Gesundheitssystems mittragen. Dies würde deutlich und nachhaltig die Elektromobilität voranbringen. Warum wird Flugkerosin nicht besteuert? Solche schädlichen Subventionen müssen auf den Prüfstand und dann korrigiert werden. Warum wird deutlich mehr in die Straßen- als in die Schieneninfrastruktur investiert? Das kann geändert werden. Ein Bündel solcher Maßnahmen kann die Stromnutzung im Verkehrssektor zügig erhöhen. Das größte Problem beim Fliegen ist die Verwendung des falschen, weil fossilen Treibstoffs. Dies ließe sich korrigieren, in dem ein jährlich steigender Anteil von nicht-fossilen Treibstoffen vorgeschrieben wird unter harten Nachhaltigkeitskriterien zu Biotreibstoffen, so dass keine Regenwaldflächen herangezogen werden. Die Folge wäre, dass synthetische Treibstoffe, basierend auf Elektrizität, Luft und Wasser, vermehrt verwendet werden.

Selbstredend darf nur erneuerbarer Strom erlaubt sein. All dies ist bekannt, wurde aber in den letzten 10 bis 15 Jahren blockiert. Diese Verweigerungshaltung muss nun umgehend beendet werden, entweder durch Einsicht der politischen Akteure oder durch entsprechende Wahlergebnisse. Es ist 5 Sekunden vor Zwölf, es muss gehandelt werden. Jetzt.

Ähnliche Defizite bis zur Null-Emission im Jahr 2050 im Wärmesektor. Hier ist laut unseren Berechnung rund 11 Prozent Wärme am Endwärmeenergieverbrauch erneuerbar. Wärmepumpen sollen eine Antwort sein – inwiefern spielt hier die Sektorenkopplung eine Rolle?

Wärmepumpen machen nur Sinn auf Basis von erneuerbarer Elektrizität und genau dies muss nun forciert werden. Damit die Wirkung möglichst stark entfaltet werden kann, muss dies an Zuschüsse gekoppelt werden. Alte Radiatorenheizungen können gegen Fußbodenheizungen getauscht werden, was einen erheblichen Sanierungsaufwand darstellt. Dies ist notwendig, weil letztere mit niedrigeren Temperaturen effizienter betrieben werden können.

Wärmepumpen können aber auch im Nah- und Fernwärmenetz verwendet werden, damit fossile Kraftwärmekopplungsanlagen substituiert werden können. Damit Lastspitzen im Netz reduziert werden, sollten flexible Wärmepufferspeicher mit eingeplant und entsprechend gefördert werden. So werden Wärmepumpen eine flexible Komponente im Energiesystem und können schwankende Strombereitstellung, insbesondere von Windenergie, wirkungsvoller ausgleichen.

Sektorenkopplung ist die Antwort auf die Frage: „Wie geht Energiewende in allen Sektoren?“ – Sie ist aber auch erst einmal kostspielig, oder?

Das Gegenteil ist der Fall. Ein kosteneffizientes Energiesystem ist ohne Sektorenkopplung gar nicht denkbar.

Kontaktperson
Prof. Dr. Christian Breyer
christian.breyer@lut.fi
www.energywatchgroup.org